Zukunft auf der Kippe //1963

Als ich neulich erwähnte, dass Fiona’s Abitur wenige Wochen vor den Prüfungen gefährdet war, dachte ich in diesem Moment gar nicht daran, dass ich damals ein ähnliches Problem gehabt hatte. Erst ein paar Tage später fiel es mir dann in ganz anderem Zusammenhang wieder ein.

Ich war immer eine gute Schülerin gewesen, für gewöhnlich bei den Klassenbesten. Zwar schrieb ich schon mal eine schlechte Note, konnte dies aber im Laufe des Schuljahres problemlos wieder mit anderen Noten kompensieren, so dass sich diese Ausreißer herausmittelten.
Es war im 4. Halbjahr der Kollegstufe. Ich erinnere mich nicht mehr so richtig, aber ich muss wohl krank gewesen sein, als die Kurzarbeit in Geschichte geschrieben wurde, denn ich hatte einen Nachtermin bekommen, in dem ich sie alleine nachschreiben musste.
Einige Tage später gab der Lehrer sie mir zurück. Es war mir schon klar gewesen, dass das keine Glanzleistung gewesen war. Ich hatte so mit 6 bis 8 Punkten gerechnet. Ich hatte ja zu allen Fragen irgendetwas, IMHO substanzielles, geschrieben. Dann aber 0 Punkte.
Da sonst niemand die gleiche Arbeit geschrieben hatte, war ein Vergleich mit der Arbeit eines Mitschülers nicht möglich. Ich kann es bis heute nicht nachvollziehen, warum ich damals überhaupt keinen Punkt bekommen hatte. Schließlich hatte ich durchaus Erfahrungen, so dass ich meist ganz gut abschätzen konnte, welche Bewertung bei einer Arbeit herausgekommen würde. Mit ein ganz klein wenig Wohlwollen hätte dieser Lehrer sicher genügend passenden Inhalt in der Kurzarbeit gefunden, der wenigstens einen Punkt gerechtfertigt hätte. Ich will ihm nichts unterstellen, aber der Gedanke liegt irgendwie nah.

Die Null-Punkte-Kurzarbeit war eine Sache. Es waren nicht meine ersten 0 Punkte, so dass sich meine Enttäuschung und Scham darüber in Grenzen hielten. Das Problem war, dass es vier Wochen vor den Abiturprüfungen war. Mit 0 Punkten in Geschichte würde ich gar nicht erst zugelassen werden. In dem – stark verkürzten – letzten Halbjahr gab es keine Zeit mehr, die mündlichen Leistungen z.B. durch ein Referat aufzubessern. Es stand nur noch die Klausur aus. Aber wenn ich einmal 0 Punkte geschrieben hatte, so könnte sich dieses Debakel auch wiederholen. Meine ganze Zukunft schien nicht mehr gesichert zu sein, meine Planung für mein vorgesehenes Studium schien sich in Luft aufzulösen. Mindestens ein Jahr meines Lebens hing von dieser einen Klausur ab. Irgendwie zog mir diese Aussicht den Boden unter den Füßen weg.
Im Gegensatz zu Fiona war ich damals (da G9) bereits volljährig, so dass wenigstens meine Eltern nicht damit behelligt wurden.

Auf die Klausur bereitete ich mich besonders gründlich vor, und schaffte dann ich-weiß-nicht-mehr-wie-viele Punkte. Es reichte aber. Und ich konnte endgültig mit Geschichte abschließen.

Seit jeher war Geschichte auf der Prioritätenliste meiner Schulfächer abwechselnd mit Sport ganz unten gewesen, sogar deutlich unterhalb von Religion. Wen interessiert es schon, was in der Vergangenheit einmal war? Was vorbei ist, ist passé.
Dieses Geschwafel, was irgendwann mal passiert ist, interessiert mich einfach nicht. Als Schulfach fehlt Geschichte jegliche praktische Relevanz oder Nutzen.
Soweit ich mich erinnere, hatten wir sieben oder acht Jahre lang Geschichtsunterricht, etwa zwei Stunden pro Woche, und ohne die Möglichkeit, es vor dem Abitur abzuwählen.
Gefühlt mussten wir uns in mindestens achtzig Prozent der Zeit nur mit dem zweiten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts beschäftigen. Zehn Prozent waren Mittelalter, fünf Prozent alte Römer und Griechen, und der klägliche Rest umfasste die ganze sonstige Vergangenheit. Das muss man sich mal vorstellen! Das Universum ist knapp vierzehn Milliarden Jahre alt, aber der Geschichtsunterricht konzentriert sich grob auf ein Dutzend Jahre. Paläontologie, Kosmologie, .. Fehlanzeige. Bei Geschichte geht es fast ausschließlich um irgendwelche Kriege der letzten wenigen Kilojahre – das ist mir zuwider.

Da ich nicht nur herummeckern, sondern auch einen umsetzbaren Lösungsvorschlag geben möchte:
Den Pflichtunterricht in Geschichte auf die Hälfte zusammenstreichen.
Sich dafür interessierende Schüler können ja meinetwegen Wahl[pflicht]kurse besuchen.
Die eingesparten Stunden für sinnvollere Fächer nutzen. Es geht nicht an, dass es Abiturienten gibt, die das Lösen einer simplen quadratischen Gleichung nicht hinkriegen, und auf ihre Unfähigkeit sogar noch stolz sind.

Mit den Geschichtszahlen konnte ich auch nichts anfangen. Mal davon abgesehen, dass diese in einer völlig willkürlichen Skala vorliegen, triggern Zahlen normalerweise mein Gehirn, damit arithmetische Operationen durchzuführen. Bei geschichtlichen Jahreszahlen (ebenso wie übrigens bei den Nummern von Gesetzesparagraphen) kommt es wohl in meinem Gehirn zu Interferenzen, weshalb es für mich eine richtige Qual ist, Zahlen auswendig zu lernen, wenn keine mathematische Struktur und Systematik dahintersteckt.
Auch die 333 – bei Issos Keilerei – zerlege ich lieber in 3^2 * 37, und die 753 – Rom schlüpft aus dem Ei – bildet die Diagonale einer Nummerntastatur. Was jetzt genau bei Issos los war, weiß ich bis heute nicht, ist mir auch egal. Immerhin kann ich mir die Gründung Roms merken.

Zwar schaue ich mir im Fernsehen schon mal ein Historiendrama an, oder inzwischen gar eine Geschichtsdoku (wenn nichts besseres im Fernsehen läuft). Aber im Grunde genommen hat mich die Zukunft immer weit mehr fasziniert. Ich mag Science Fiction, und bin neugierig auf die technologischen Möglichkeiten, die die Zukunft bringen mag. Futurologie ist ein spannendes Forschungsfeld, das in der Schule leider absolut ignoriert wird.
Es ist doch viel besser, sich mit der Zukunft zu beschäftigen, und sich zu bemühen, sie zweckmäßig und angenehm zu gestalten. Stattdessen lässt man über uralte Geschichten kein Gras wachsen, und hackt sie immer wieder auf.

Gerade junge Menschen sollten sich auf die Zukunft konzentrieren. Nur alte Leute leben in der Vergangenheit – bzw. umgekehrt: Wer sich nur noch mit der Vergangenheit beschäftigt, ist alt.

Soweit hatte ich den Text bereits am Vortag aufgeschrieben. Inzwischen ist mir noch eingefallen, dass der oben genannte Lehrer durchaus einen Grund gehabt haben könnte, mir zu grollen.
Als Schülerin war ich immer ruhig und zurückhaltend gewesen, überhaupt nicht aufmüpfig oder renitent. Eigentlich kam ich mit allen Lehrern gut zurecht. Gerade Geschichte war mir so gleichgültig, dass ich keinenSinn darin sah, deswegen herumzustreiten oder mich mit dem Lehrer anzulegen (wie das durchaus ein paar Mitschüler versuchten).
Wenn ich etwas weiter in meine Schulzeit zurückblicke, hatte ich jenen Lehrer bereits ein Jahr lang in der Mittelstufe auch in Deutsch gehabt. Gelegentlich erzählte er im Unterricht auch etwas über seine privaten Unternehmungen. Einmal schilderte er ein Erlebnis, das so aus naturwissenschaftlichen Gründen in dieser Form aber gar nicht möglich gewesen sein kann. Ich habe keine Ahnung mehr, was das damals konkret war. Jedenfalls wies ich ihn vor versammelter Klasse auf seinen Fehler (das ist die positive Deutung gemäß Hanlon’s Razor – es hätte auch eine vorsätzliche Lüge sein können) hin. Auch wenn er die Sache damals überspielte und scheinbar mit Humor nahm, kann es sein, dass dies für ihn ein Motiv für eine spätere Rache gewesen sein könnte.
Bezeichnenderweise kam ich damals gar nicht auf die Idee, dass er mir die Verbesserung vielleicht übel genommen haben könnte. Ich muss mich seither selbst wohl innerlich weiterentwickelt haben, denn damals war mir solches Denken völlig fremd. Jetzt mutet es mich immer noch als merkwürdig an, aber zumindest ist mir bewusst, dass viele Leute so ticken.
Deshalb konnte ich wohl auch nie etwas mit Geschichte anfangen, denn im Grunde geht es dabei meistens nur um irgendwelche Befindlichkeiten von Leuten, ihre verletzten Eitelkeiten, und wie sie darauf reagieren. Die Zusammenhänge sind alles andere als logisch oder rational, so dass sie für mich kaum nachvollziehbar sind.

Über Anne Nühm (breakpoint)

Die Programmierschlampe.
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8 Antworten zu Zukunft auf der Kippe //1963

  1. keloph schreibt:

    zu geschichte habe ich eine ganz andere einstellung. na klar soll man bitte in die zukunft denken, aber man darf die erfahrungen der (näheren) vergangenheit dabei nicht ausser 8 lassen. ich fand geschichte immer cool und pflege auch heute noch ein faible für die geschichte des 20. jahrjunderts. aber das ist natürlich geschmackssache. worüber ich bei deiner geschichte grinseln musste, ist die tatsache, dass ich mal wegen mathematik sitzenbleiben sollte (ich habe das durch eine nachprüfung nach den sommerferien abwenden können) und später ein mehr als ordentliches diplom in eben jenem fach ablegte. allerdings habe ich die begeisterung für dieses fach eher in ein interesse an der filosofie umgesetzt.

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    • Jeder hat andere Interessen, und ich will geschichtlich interessierten Personen das Schulfach gar nicht vorenthalten oder verleiden.
      Für alle anderen sollte man es aber deutlich reduzieren.

      Hätte ich damals die Klausur auch versiebt, hätte ich die Abiprüfungen nicht mitschreiben dürfen, und – ohne die Möglichkeit einer Nachprüfung – das ganze letzte Schuljahr noch mal machen müssen.

      Ein paar Philosophievorlesungen habe ich an der Uni auch gehört.

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  2. blindfoldedwoman schreibt:

    Ohne profunde Geschichtskenntnisse würde die Menschheit immer wieder die selben Fehler machen.
    Wenn man bspw. die Machtergreifung Hitlers verstehen will, so muß man wissen, wie es dazu kommen konnte. Der erste Weltkrieg, Versailler Vertrag, bolschewistischer Terror, Weimarer Republik, Weltwirtschaftskrise…
    „Zukunft ist Herkunft. Wenn wir uns unserer Herkunft nicht mehr erinnern, werden wir keine Zukunft haben.“ Hans-Georg Gadamer .

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    • Ohne profunde Geschichtskenntnisse würde die Menschheit immer wieder die selben Fehler machen.

      Davon bin ich nicht überzeugt. Komplexe Systeme wiederholen sich nicht exakt wieder in derselben Form.

      Und selbst wenn es so stimmen würde – dann werden halt andere Fehler gemacht. Ob die besser wären?

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  3. Leser schreibt:

    Mir geht es in Bezug auf Geschichte ganz genau so! Eigentlich völlig unwichtig, was wie einmal war. Inzwischen interessiere ich mich für manche Aspekte, die man Geschichte nennen könnte, aber eben auch wiederum nur Hobbymäßig – so werde ich am Wochenende ganz sicher zum Vintage Computing Festival Berlin gehen, weil da lebhaft die Geschichte einer heute alles bestimmenden Technik aufgezeigt wird. Aber natürlich in dem Wissen, dass das auch alles selektiv ist, eben je nach dem, wer da diesmal seine Exponate mitbringt.
    Dennoch: Geschichte von Politik oder Kriegen usw., das finde ich auch heute noch weitestgehend uninteressant. Obwohl ja gerade eine Zeit vorherrscht, die viele (geschichtsbewanderte und -interessierte) an die 30er Jahre erinnert. Keine Ahnung, was da dran ist – jede Situation ist doch sowieso immer einzigartig…
    Ich finde auch, man sollte eher Zukunftsforschung unterrichten, und auch da kann man die Fehler der Vergangenheit unterbringen, und dass man sie bitte nicht wiederholen möge.

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    • Technik- und Wissenschaftsgeschichte kann durchaus interessant sein, wenn man bestimmte Vorgehensweisen erfährt, die zu bedeutenden Entdeckungen geführt haben. So etwas kann inspirieren.
      Lernt man in der Schule aber höchstens minimal.

      Ich finde auch, man sollte eher Zukunftsforschung unterrichten, und auch da kann man die Fehler der Vergangenheit unterbringen, und dass man sie bitte nicht wiederholen möge.

      ACK

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  4. Pingback: Oktobrige Tweets //2157 | breakpoint

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