Sender Unknown //2346

Das Telefon klingelte auf meinem Schreibtisch. Das Display zeigte Carsten’s private Handynummer an. Ich hob ab. „Anne, komm unverzüglich rüber in mein Büro!“
Bevor ich etwas erwidern konnte, hatte er bereits aufgelegt.
Eigentlich habe ich keine Lust, mich so herumkommandieren zu lassen. Andererseits hätte es etwas wichtiges sein können, das es rechtfertigte, meine momentane Arbeit (Erstellung eines Notfallkonzeptes mit aufgeweichten Kriterien für Home-Office, etc.) zu unterbrechen. Außerdem lag Standort 1a eh in der Richtung, wo ich mir nachher etwas zum Essen kaufen wollte.
Also speicherte ich in aller Ruhe das Dokument, an dem ich gerade gearbeitet hatte, hibernatete den Rechner und zog mir meine Jacke über. Dann ging ich gemächlich hinüber.
Die diensthabende Vorzimmerdame sagte, ich solle sofort ins Chefbüro hinein, er warte schon ungeduldig.

„Was gibt es so dringendes?“, fragte ich, nachdem ich eingetreten war.
„Sieh dir das an!“ Er zeigte auf seinen Monitor, und machte mir ausreichend Platz, um neben ihn zu treten, und drei oder vier Fotos anzusehen, die nacheinander angezeigt wurden. Auf den Fotos umarmten und küssten Sebastian und ich uns.
Ich beschloss, mich gar nicht erst in die Defensive drängen zu lassen. „Wo hast du die Bilder her?“
„Das ist völlig unerheblich“, wiegelte er ab.
Ich insistierte: „Ich möchte aber wissen, woher sie stammen.“
„Jemand hat sie mir zugemailt.“
„Wer?“
„Das weiß ich nicht.“
„Du verstößt gegen sämtliche Sicherheitsregelungen, indem du einen Mailanhang von einem unbekannten Absender öffnest.“

„Wechsle nicht das Thema. Ich hätte wissen müssen, dass es eine Schnapsidee war, eine Beziehung mit einer soviel jüngeren, sexuell hyperaktiven Frau einzugehen. Du bist auf dem Zenit deiner sexuellen Entwicklung, während es mit mir schon längst bergab gegangen ist, und ich nicht mehr mit dir mithalten kann.“
„Blödsinn!“, widersprach ich heftig. Aber er redete bereits weiter, und fragte: „Was hast du zu den Fotos zu sagen?“
„Ich hab‘ dir doch erzählt, dass ich auf dem Kongress ein paar Bekannte getroffen habe.“
„Von solch intimem Zusammensein hast du mir nichts erzählt.“
„Weil du bei Einzelheiten sowieso nie zuhörst.“ [Und an diesem Abend war er erst recht nicht mehr aufnahmebereit gewesen.] „Die Fotos sehen kompromittierender aus, als es tatsächlich war“, ich sah mich gezwungen, jetzt doch etwas konkreter zu werden, „wir haben uns lediglich freundschaftlich voneinander verabschiedet, und er hat mich dabei auf die Wange geküsst.“ Ein wenig erbost fügte ich hinzu: „So ist das in vielen Ländern üblich.“
„Und warum haben die Bilder dann so einen rosarot-pastelligen Hintergrund?“
Ich schaute genauer hin. „Du meine Güte! Das war wohl irgendso ein Reklameplakat. Hat der Fotograf ganz geschickt ausgeschnitten, so dass man nichts vom Flughafenrummel mitkriegt. Und schau, hier sieht man ganz genau, dass ich meine helle Jacke anhatte.“

Carsten schien etwas beruhigt, aber ich war nicht gewillt, die Angelegenheit auf sich beruhen zu lassen.
„Du öffnest Mailanhänge aus unbekannter Quelle, und nimmst den Inhalt unüberprüft als bare Münze. Mal abgesehen davon, dass du dir den schlimmsten Virus einfangen oder sonst eine Malware damit hättest installieren können, die das ganze Firmennetz befällt“ [Genau aus u.a. solchen Gründen zögere ich, Zugänge aus den Privatwohnungen von Mitarbeitern ins Firmennetz als Home-Office zu gestatten.]“, können solche Fotos auch gefaket und manipuliert sein.“
Ich werde mal mit der IT-Abteilung sprechen, ob es möglich ist, Anhänge von unbekannten Absendern erst mal zu blockieren, zu überprüfen oder in Quarantäne zu schicken. Das ist ein enormes Sicherheitsrisiko, und Carsten hätte es eigentlich besser wissen müssen. Die IT hat halt aktuell dringenderes zu tun.

Aber viel wichtiger: „Wer ist so missgünstig, mich in solch einer – im Grunde genommen harmlosen, aber missverständlichen – Situation zu fotografieren, und die Bilder – passend zurechtgeschnitten – anonym an dich zu schicken? Das muss doch jemand gewesen sein, der uns beide kennt. Mir ist aber niemand aufgefallen, als ich am Flughafen war.“ [Letzteres kann natürlich auch an meiner Gesichtsblindheit liegen.]
Ich erinnerte mich daran, dass es vor einigen Jahren schon mal einen Vorfall gegeben hatte, bei dem uns jemand denunziert hatte. Die Hintergründe konnten nie geklärt werden.

Ich kopierte mir die Daten aus dem Mail-Header. Wie ich allerdings erwartet hatte, halfen mir die nicht weiter. Die IP-Adresse führte ins Leere. Der Absender muss gewusst haben, wie man eine Mail so verschickt, dass der Empfänger keine Rückschlüsse ziehen kann. Mit viel größerem Aufwand könnte man vielleicht etwas herauskriegen, aber ich bin nicht gewillt, diesen Aufwand zu treiben.
Also werde ich nichts mehr in diese Richtung unternehmen, bloß meine Wachsamkeit verstärken. Eine erneute Sicherheitsbelehrung für die Belegschaft, sowie Teile der Geschäftsführung kann auch nicht schaden. Als ob wir aktuell nicht ganz andere Probleme hätten.

Über Anne Nühm (breakpoint)

Die Programmierschlampe.
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27 Antworten zu Sender Unknown //2346

  1. mijonisreise schreibt:

    Starkes Stück, egal von welchen Aspekt aus betrachtet.
    Was bringt Leute dazu, sowas überhaupt in Umlauf zu bringen?
    Rein rethorische Frage, da ja nur Spekulationen bleiben.
    Ich hoffe, die Wogen glätten sich zügig.

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  2. keloph schreibt:

    so etwas schürt emotionen, aber eigentlich ist es schade um die lebenszeit. vom risiko ganz zu schweigen.

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  3. blindfoldedwoman schreibt:

    Wenn ich zufällig am Flughafen jemand in einer vermeintlich kompromittierenden Situation sehe, reagiere ich dann so schnell und mache Fotos?
    Das kommt mir doch sehr unwahrscheinlich vor.

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  4. Papa und alleinerziehend schreibt:

    Kannst du ja nur froh sein, dass es keine Bilder von deinem Treffen mit Herrn Sendel gibt! 😉

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  5. Papa und alleinerziehend schreibt:

    Sei froh, das Carsten keine Bildern vom Treffen mit Herrn Sendel bekommen hat

    (Mal sehen ob du diesen Beitrag auch wieder nicht freischaltest)

    Gefällt 1 Person

  6. Plietsche Jung schreibt:

    Puh. Wenn man das logisch durchdenkt, gibt es nicht viele Möglichkeiten:
    1. Jemand will dich aus der Fa. loswerden
    2. Ein Verehrer arbeitet an deiner Trennung
    3. Eine Verehrerin von Carsten will dich rausdrängen
    4. Carsten selbst hat einen Detektiv geauftragt.

    Alles etwas unangenehm. So oder so.

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  7. Leser schreibt:

    Hui, kaum hab ich einen Tag mal nicht reingeschaut, verpasse ich hier das volle Seifenopern-Drama vom Feinsten! Ich hoffe doch mal, dass Carsten Dir vertraut, was die Aussage bzgl. Sebastian angeht. Und ansonsten würde ich sagen, könnte das anfertigen und verschicken solcher Fotos womöglich sogar strafrechtlich relevant sein, also wenn man da eine Anzeige stellen wollte…zumindest DSGVO, Recht am eigenen Bild oder ähnliches…gibts nicht inzwischen auch einen Stalkingparagraphen? Könnte man auch mal rein schauen, ob der in irgend einer Weise (sowohl bzgl. des ungewollt fotografiertwerdens als auch bzgl. des ungewollten Erhalts solcher E-Mails) relevant ist..

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    • Mit Carsten ist alles OK. Er hat verstanden, dass dies eine völlig harmlose Geste war.

      Was sollte eine Anzeige gegen Unbekannt bringen? Kostet uns nur Zeit, und es würde höchstwahrscheinlich nichts dabei herauskommen.
      Wir werden zukünftig wachsamer und vorsichtig sein, immer mit dem Gedanken im Hinterkopf, dass eine missgünstige Person uns überwachen könnte.

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  8. StillerMitleser schreibt:

    Kommt Philipp in Frage?

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