Auf Schicksalsspuren //2692

Dies ist die Geschichte einer meiner Urgroßmütter, der Mutter meiner Oma (die mit den Strapsgürteln). Nennen wir sie hier Eva.
Das, was ich über sie weiß, beruht vor allem darauf, was mir meine Oma erzählt hat, was sonst noch innerhalb der Verwandtschaft hin und wieder thematisiert wird, sowie auf Fotos und Dokumenten, die ich gesehen habe.

Eva wuchs in einem Dorf in der Nähe der Kreisstadt auf. Über ihre Kindheit weiß ich praktisch nichts, nur dass sie dort Landwirtschaft betrieben, Schweine, Gänse, Hühner und ein paar Kühe hatten. Eva war das zweitjüngste von sechs Kindern.
Sie war von kleiner und zarter Statur, so dass es erstaunlich gewesen sein muss, als sie einen jungen Mann in einem Nachbardorf heiratete, der der größte Mann dort war (darauf beruhte später der Dorfname der Familie – BTW war er sogar ein Stückchen kleiner als ich, aber damals waren die Leute allgemein noch kleiner als heutzutage, da mittlerweile die Lebensbedingungen und Ernährungssituationen viel besser sind als früher).
Ich habe ihr Hochzeitsfoto gesehen. Obwohl Eva auf einem (mit einem Fell bedeckten) Schemel stand, war sie trotzdem noch ein erhebliches Stück kleiner als ihr Bräutigam.

Ihr Mann (mein Urgroßvater) war im ersten Weltkrieg verwundet worden. Er hatte einen Lungensteckschuss erhalten, und hatte seither gesundheitliche Probleme, war nicht voll belastbar, und immer wieder krank. So blieb die harte Landarbeit am kleinen Hof vor allem an Eva hängen.
Im Laufe von acht Jahren setzten sie fünf Kinder in die Welt. Für Eva müssen es sehr schwere Entbindungen gewesen sein, da sie so zierlich war. Insbesondere beim jüngsten Kind (meiner Oma) spürte sie schon Tage vor der Geburt keine Kindsbewegungen mehr. Die Geburt zog sich ewig lange hin und die Hebamme ging längst von einer Todgeburt aus.
Als meine Oma sieben Jahre alt war, starb mein Urgroßvater, der nach den Erzählungen meiner Oma ein sehr fürsorglicher und liebevoller Vater gewesen sein muss, an den späten Folgen seiner Kriegsverletzung.
Eva musste zusehen, wie sie alleine mit fünf Kindern zurechtkam.

Dass irgendwann der zweite Weltkrieg begann, machte das Leben für sie und ihre Familie nicht leichter. Trotzdem nahm sie zeitweilig noch einen Jungen aus dem Ruhrgebiet im Rahmen der Kinderlandverschickung (so hieß das doch?) auf.
Ihre beiden Söhne wurden dann zur Wehrmacht eingezogen. Der ältere hatte bereits seine Lehre beendet. Mit gerade mal zwanzig Jahren fiel er dann im Donezbecken (ein leider aktueller Anlass hat mir diese Geschichte wieder in die Erinnerung gespült). Wo genau sein „Grab“ lag, ist nicht bekannt. Der jüngere wurde zwei Jahre später mit ebenfalls zwanzig Jahren irgendwo in Osteuropa vermisst. (Das waren zwei gutaussehende, kräftige Burschen gewesen. Was hätten sie wohl in ihrem Leben erreichen können, wenn es ihnen nicht so früh gewaltsam genommen worden wäre.) Meiner Oma fehlten ihre Brüder auch nach Jahrzehnten immer noch.
Auf dem Dorffriedhof habe ich ihre zwei – nur symbolischen – Gräber gesehen. Auch auf dem Familiengrabstein waren ihre Namen sowie Geburts- und Sterbejahre eingemeiselt. Als Kind war es für mich unfassbar, dass bei beiden die Differenz genau 20 war. Das hat mich schon damals erschüttert und die Sinnlosigkeit jeder Art von Krieg vor Augen geführt. Kein Konflikt kann es rechtfertigen, Menschen in den Krieg zu schicken, ihnen Gesundheit, Jugend, Leben zu rauben.
Von Eva ist das (sinngemäße) Zitat überliefert: „Wenn doch damals das Attentat auf den $H geklappt hätte, wäre wenigstens einer wieder heimgekommen!“

Eva’s älteste Tochter blieb unverheiratet und kinderlos. Die beiden anderen gründeten Familien.
Als Eva älter wurde, bekam sie zunehmend schweres Asthma. Sie erlebte noch ihre zwei ältesten Enkel, bevor sie schließlich mit Anfang sechzig nach einem Leben voller Mühsal und Entbehrungen verstarb.

Ich kenne das Haus, in dem Eva mit ihrer Familie gelebt hat. Es steht noch, aber ist bereits seit langem unbewohnt. Nicht unterkellert, vier kleine Räume, Dachboden zum Lagern von Zwiebeln und Gemüse (ich erinnere mich an eine Dezimalwaage da oben, die mich als Kind fasziniert hat). Ein alter Weinstock rankte an der Südseite hoch und trug im Spätsommer unscheinbare, aber leckere Trauben. Das Klo war draußen neben der Jauchegrube. Wie konnten sie zu sechst oder zu siebt nur alle in diesem winzigen Haus wohnen?
Ich erinnere mich noch sehr vage an die Scheune und den Schweinestall, die aber irgendwann abgerissen werden mussten. Dann war da noch ein großer Gemüsegarten mit Erdbeerbeet, eine Wiese mit Obstbäumen (Äpfel, Zwetschgen, Ringlo), die dem Geflügel, nehme ich an, als Auslauf gedient haben muss. Ein weiteres Nebengebäude, das als eine Art Werkstatt fungierte, steht noch.
Ich weiß auch von den paar Fetzchen Land – ein paar kleine Äcker, Grünland und Wald – die Eva bewirtschaften musste. Das muss gerade so gereicht haben, dass die Familie nicht hungern musste. Übrig blieb nichts. Und dafür Tag ein, Tag aus schwere Arbeit, ohne dass Freizeit blieb. Die ganze Familie musste von kleinauf nach Kräften mitarbeiten. Damals gab es noch keine landwirtschaftlichen Maschinen, und wenn, dann hätten sie sich die nicht leisten können. Zum Pflügen und für andere Feldarbeit wurde eine Kuh eingespannt, die dann aufgrund der körperlichen Anstrengung kaum noch Milch gab. (Meine Oma erzählte manchmal, wie sie in ihrer Jugend ein Kälbchen „Moggele“ aufgezogen hatte, das dann an den Metzger verkauft werden musste.)
Ja, das Leben war damals auf dem Lande bestimmt nicht leicht. Trotz schwerer Arbeit blieb die Landbevölkerung arm und musste andauernd um das eigene Überleben kämpfen. Einen Sozialstaat, wie wir ihn heute kennen, gab es längst nicht.
[Und da gibt es heute Leute, die ernsthaft ein bedingungsloses Grundeinkommen fordern, also Geld ohne Gegenleistung auf Kosten anderer Menschen. Ich kann mir das nur erklären, dass die so vom Wohlstand verwöhnt sind, dass sie sich gar nicht mehr vorstellen können, was es bedeutet, durch eigene Mühen seinen Lebensunterhalt erzielen zu müssen. Wirklich – deren menschenverachtende Schnorrermentalität ist mir so was von zuwider!]

Von meinen anderen Urgroßeltern weiß ich nicht so viel, weil mir nur Eva’s jüngste Tochter noch so viel erzählen konnte. Da fallen mir bloß Fragmente ein. Noch zwei weitere Urgroßelternpaar waren in der Landwirtschaft tätig, ein Urgroßvater davon außerdem noch als Brauer, einer war Schlosser.
Der Schlosser war weithin bekannt für seine kunstvollen Treppengeländer. Die hatten damals die Werkstatt direkt in den Wohnräumen, samt Blasebalg (den mein Großvater häufig bedienen musste). Hinter dem Haus hielten sie eine Ziege in einem Verschlag. Diese ließ sich aber nur von meiner Urgroßmutter anfassen und melken. Alle anderen, die es versuchten, stieß sie mit ihren Hörnern.
Auch die anderen Urgroßeltern verloren Söhne im Krieg. Einer meiner Großväter kam mehrere Jahre nach Ende des Kriegs aus französischer Kriegsgefangenschaft zurück, als eigentlich bereits alle längst die Hoffnung aufgegeben hatte. Seine Jugend und die besten Jahre seines Lebens waren ihm genommen worden.

An vieles davon hatte ich seit etlichen Jahren, vielleicht Jahrzehnten nicht mehr gedacht. Schon faszinierend, was einzelne Assoziationen einem wieder als vergessen geglaubte Erinnerungen ins Bewusstsein spülen können.

Über Anne Nühm (breakpoint)

Die Programmierschlampe.
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16 Antworten zu Auf Schicksalsspuren //2692

  1. Andreas schreibt:

    Ja, das ganze Leid und die Armut und die Kriege … klar, man sollte die Geschichte kennen, zumindest das „big picture“, aber persönliche Schicksale, insbesondere in der eigenen Familie, sind nochmal ne ganz andere Nummer.
    Mein Vater (Jahrgang 28) hat gerade so die Kurve bekommen und ist damals ausgebüchst, als Sie ihm ne Panzerfaust in die Hand drücken und „die Russen aufhalten“ lassen wollten. Einer seiner Brüder hat es bis Stalingrad geschafft, wir wissen nicht was passiert ist, aber vermutlich kullern seine Überreste dort irgendwo rum, er ist erst vor ein paar Jahren als verstorben erklärt worden. Ein anderer war in der Ukraine in einem „Polizistenregiment“ hinter der Front, die hatten vor allem mit der Zivilbevölkerung zu tun, Juden einsammeln, „Säuberungsaktionen“, solche Sachen, ich kenne keine Einzelheiten über seine Aufgaben dort, aber so richtig spaßig wird es nicht gewesen sein … Onkel Hans hat sich ne Kugel in den Kopf gejagt.

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  2. Mika schreibt:

    Meine Großväter konnte ich nie kennen lernen. Einer geriet in russische Gefangenschaft und starb früh an den Folgen der Zwangsarbeit. Über den anderen gibt es zwei Versionen. Entweder haben ihn die Nazis umgebracht, oder er ist zu den Amerikanern übergelaufen. Er war wohl mit streng geheimer Technologie befasst. Die aufgefundenen Papiere stützen beide Versionen, aber doch nicht so ganz schlüssig. Er ist einfach verschwunden. Seine Frau, meine Oma, hat nie wirklich darüber gesprochen, aber sie war eine gebrochene Frau.
    Die andere Oma hat den Hof später alleine versorgt und hatte ein erfülltes Leben. Auf dem Sterbebett lächelte sie. Als sie starb, hatte sie Frieden mit der Welt geschlossen. Sie war mal eine kleine Berühmtheit und ihr Name öffnet in ihrer Heimat Tür und Tor.
    Und jetzt zetteln diese Idioten in den Regierungen wieder einen Krieg an. Diese ganze Verantwortungslosigkeit ist unfassbar. Meine Familie hat Dutzende „Heldengräber“ und Gedenkstätten, auf denen die Namen stehen. Und bald wollen sie meinen Sohn, meine Neffen und Großneffen haben. Wie war das mit dem nie wieder?

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    • „Heldengräber“ hatte unsere Familie gar keine. Die Toten (ob jetzt „heldenhaft“ oder auch nicht) müssen wohl irgendwo auf dem Feld (im besten Fall) verscharrt worden sein.
      Besonders meine Oma war deshalb sehr verbittert. Sie hat niemals für Kriegsgräberfürsorge gespendet. Für andere Zwecke war sie (im Rahmen ihrer äußerst bescheidenen Möglichkeiten) freigebig, aber dafür nicht.

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      • Mika schreibt:

        Wir kennen die Gräber, bis auf eins. Ein sehr kleiner Trost. Für die Kriegsgräber spende ich immer mal wieder. Das kleine Fünkchen Achtung sind mir die Gefallenen wert. Wobei Gefallene kein gutes Wort ist. Es sollte Verschwendete genannt werden.

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  3. pirx1 schreibt:

    Mord und Tötung sanktionieren wir scharf – vollkommen zu Recht – so lange das Strafrecht greifen kann. Einem anderen Menschen nach dem Leben zu trachten oder es ihm sogar zu nehmen ist Unrecht, das wäre Konsens in einer tatsächlich zivilisierten Welt. Als juristisch und vielleicht auch moralisch wirksame Ausrede erkennen wir allenfalls den Tatbestand der Notwehr, die Verteidigung des eigenen Lebens, notfalls auch bis zum Tod des Angreifers. Kann es überhaupt noch weitere, „mildernde Umstände“ für die Tötung eines anderen Menschen geben? Einige Zivilisationen meinen, es wäre legitim, dem Mörder das eigene Leben ebenfalls zu nehmen, sie praktizieren die Todesstrafe. Ich kann mit solchen animalischen Rachegedanken nichts anfangen. Auch die Todesstrafe ist praktiziertes Unrecht.

    Und es gibt Mord und Totschlag, es gibt Aggression und Krieg. Wir leben nicht in dieser idealisierten Welt. Wie also mit jemandem umgehen, der sich bewusst außerhalb der zivilisatorischen Vereinbarung stellt?

    Kann Tötung im Rahmen von Krieg mit anderen Maßstäben gemessen werden?

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    • Es gibt ja nicht nur schwarz und weiß, sondern auch viele Zwischentöne.
      Du fragst nach „mildernden Umständen“ für die Tötung eines Menschen, und nennst selbst die Notwehr als Rechtfertigung. Es gibt noch die Nothilfe, bei der also ein Angriff auf Dritte abgewehrt wird.
      Ohne jetzt eine Diskussion darüber lostreten zu wollen, fällt mir noch die Sterbehilfe ein, für die es nachvollziehbare Gründe geben könnte.

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    • Plietsche Jung schreibt:

      Vielleicht ist dein Maßstab nicht die Referenz für die Welt ?
      Vielleicht denken Menschen in anderen Gegenden dieser Welt auch so von uns moralbeladenen Europäern ?

      Die Todesstrafe ist gut als Abschreckung. Punkt. Auge um Auge. Resozialisierung über Jahrzehnte hilft genau wem ? Dem Täter ? Dem Opfer ? Der Gesellschaft ? Oder nur dem morlaischen Anspruchsdenken ?

      Kriege wird es immer geben. Solange jeder Mensch meint, dass sein/ihr Bewusstsein und das eigene Sein der Mittelpunkt der Gegenwart und das Zentrum der Selbstverwirklichung sei, ist ein kooperatives Zusammenleben nicht sicher. Es startet beim Autofahren, geht weiter am Gartenzaun und endet bei Diktatoren und auch Pseudo-Demokratien. Der Mensch ist schlecht und hat sich in 10000 Jahren kaum weiterentwickelt.

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      • pirx1 schreibt:

        Ich erhebe nicht den Anspruch, die Referenz für die Welt zu sein. Ich stelle offene Fragen und meine Meinung zur Diskussion. Moralbeladen zu sein ist etwas Schlechtes?

        Wem hilft denn Auge um Auge? Dem Opfer sicher nicht mehr. Dem Täter sicher auch nicht. Den Hinterbliebenen des Opfers? Es gibt eine Anzahl von Bewegungen gegen die Todesstrafe, deren Mitglieder sich aus Hinterbliebenen von Gewaltopfern rekrutieren. Ist Resozialisierung die einzige zwingende Alternative zur Todesstrafe? Ist der Mythos der Abschreckungswirkung nicht lange entlarvt? Was ist mit unschuldig verurteilten Hinrichtungskandidaten? Und kann sich eine Gesellschaft auf irgendeine Moral berufen, wenn sie Moral prinzipiell für lästig hält?

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        • Plietsche Jung schreibt:

          Die Todesstrafe hat nicht die Absicht, dem Täter zu helfen. Sie ist die einzig wirksame Abschreckung und massiver als alles, was es sonst noch gibt. Der Staat spart zudem noch teures Steuergeld und den Hinterbliebenen bleibt eine gewisse Genugtuung.

          Eine Vergebung ist ausgeschlossen und die ist bei Mördern auch richtig so.

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          • pirx1 schreibt:

            Die Mär der abschreckenden Wirkung der Todesstrafe ist aber doch in zahlreichen wissenschaftlichen Studien längst widerlegt. Was könnte genugtuend daran sein, sich auf eine Stufe mit den primitiven Tötungswünschen des Täters zu stellen? Wie will man je einen Neuanfang (auch für sich selbst) schaffen, wenn man Vergebung prinzipiell ausschließt? Und Steuergeld … was kostet der Unterhalt von Gaskammern, Henkern, Bewachung, Revision … zum Teil warten Hinrichtungskandidaten 20 Jahre und mehr auf die Vollstreckung.

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  4. jezek schreibt:

    Schöner post über die alte Zeit, die nur selten wirklich gut war Wir können dankbar sein für unser Leben in der heutigen Zeit, uns müssen alles versuchen dies so zu behalten.

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