Vierhunderteinundzwanzig

Als Carsten nach Hause kam, war er offensichtlich schlecht gelaunt.
Zu meiner Enttäuschung verzichtete er auf den üblichen Begrüßungsquickie, sondern ließ sich gleich auf das Sofa fallen.

„Was ist los?“, fragte ich, „Probleme?“
„Der CIO hat gekündigt. Weißt du etwas davon?“
„Ich? Nein. Wieso sollte ich? Ich bin genauso überrascht.“
„Nun, du hast immerhin oft mit ihm gesprochen. Schließlich hat er dir auch diese Position zu verdanken.“
„Mir hat er nichts davon gesagt. Vielleicht hat er einfach einen besseren Job gefunden.“
„Glaube ich nicht. Er war schließlich kaum länger als ein Jahr für die IT verantwortlich. Da finden sich normalerweise noch nicht die besten Posten.“
„Woher willst du das wissen? Vielleicht hat er doch irgendwo ein lukratives Angebot bekommen“, meinte ich ohne besondere Überzeugungskraft.
„Hm. Also dir ist nichts bekannt? Mir schien es nämlich, als ob er nicht irgendwohin, sondern nur weg von hier wollte.“
„Wie oft muss ich mich noch wiederholen? Er hat mir nichts gesagt, auch keine Andeutung gemacht.“
„Und dir fällt auch sonst kein Grund ein?“

Ich schwieg, und überlegte krampfhaft, wie ich es vermeiden könnte, Farbe zu bekennen. Ich gebe zu, dass ich in einem Dilemma war. Eigentlich hatte ich die ganze Sache mental bereits ad acta gelegt. Schließlich gab ich auf und meinte zaghaft: „Vielleicht könnte es doch einen Grund geben.“
Er sah mich fragend an.

„Erinnere dich bitte daran, was wir vereinbart haben, ..“
„Wir haben so einiges vereinbart. Was konkret?“
„Das mit der Generalamnestie ..“
„Was willst du damit sagen?“
„Naja, damals im Winter, ..“
Als er verstand, ließ er seine Faust auf den Tisch krachen: „Also steckst doch du dahinter! Sag mal, was hast du dir eigentlich dabei gedacht?“
„Wir waren damals getrennt. Ich hatte keinerlei Verpflichtungen dir gegenüber“, rechtfertigte ich mich, „und ich war so allein und außerdem war das eh nur zwei- oder dreimal, also höchstens im Promille-Bereich und somit vernachlässigbar.“
„Was heißt zwei- ‚oder‘ dreimal?“
„Wenn du es ganz genau wissen willst: einmal haben wir uns getroffen, er hatte zwei, ich drei Orgasmen. Bist du jetzt zufrieden?“

„Zufrieden bin ich ganz sicher nicht! Aber ich halte mich an die Amnestie. Kein Wunder, dass er weg wollte. Mit solch einem Damoklesschwert über sich.“
„Ich hatte nicht die Absicht, ihn auffliegen zu lassen. Schließlich war mir schon klar, dass du ihn dann nicht mehr auf deiner Gehaltsliste dulden würdest.“
„Na, ich hätte mich an seiner Stelle diesem Risiko auch nicht länger als nötig ausgesetzt. Gefällst du dir eigentlich in deiner Rolle als femme fatale? Das ist nicht der erste Mann, dem du die Karriere gekostet hast.“
„Was willst du denn damit sagen?“
„Beginnen wir mit dem alten CIO. ..“
„Moment mal!“, unterbrach ich ihn, „der hat schließlich versucht, dich auszuspionieren. Dafür kannst du doch nicht mir die Schuld geben!“
„Dann der CMO, der gekündigt hat, weil du dich immer wieder in seine Aufgaben eingemischt hast.“
„Da gab es sicher auch noch andere Gründe.“
„Und dein Alex hatte – wie ich gehört habe – auch keinen guten Stand mehr bei Softicago, nachdem er mit dir Geschäfte gemacht hat.“
„Ich habe mich nur an den Vertrag gehalten! Und hättest du dich nicht eingemischt, hätte er gar kein Problem bekommen ..“
„Das sind nur die Fälle, die ich mitgekriegt habe, also sicherlich nur die Spitze des Eisbergs. Wer wird der nächste sein?“

Er schaute mich ärgerlich an, fuhr dann ruhiger fort: „Wenn ich es recht bedenke, möchte ich heute lieber alleine sein. Ich fahre zu mir. Ich rufe dich morgen an.“
Kurz danach war er gegangen und ließ mich mit einer inneren Leere zurück.

Über Anne Nühm (breakpoint)

Die Programmierschlampe.
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20 Antworten zu Vierhunderteinundzwanzig

  1. Moody schreibt:

    Hm… nicht gerade eine abendliche Unterhaltung, wie man sie sich wünscht…

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  2. remi1 schreibt:

    Oh krasse Reaktion. Ich hoffe, dass die Welt nach einer Nacht drüber schlafen wieder anders aussieht.. Drück dich.

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  3. House-of-mystery schreibt:

    Ach du, ehrlich gesagt finde ich sein vErhalten so in dieser Form nicht gerade ok ! Was das eine angeht und wenn ich es richtig verstehe, wart ihr beide zu dem gegebenen Zeitpunkt gar nicht zusammen.
    Das andere, ich meine du machst einen Job und du versuchst ihn gut zu machen, so wie es eben erforderlich ist. Wie sieht denn seine Spitze seines Eisberges aus ?
    Ich glaube manchmal ist er sich so über einiges nicht bewußt. Anderseits wird er sicher darüber nachdenken und wie es mir aus der Ferne scheint hängt er sehr an dir. Da sind einige ängstliche Gefühle im Spiel, die von viel mehr verkünden….. !

    Er wird sich sicher bald bei dir melden ! Drück dich !!!

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  4. idgie13 schreibt:

    Oje. So einen Abend braucht wohl niemand. Ich hoffe sehr, es renkt sich wieder ein und er kriegt sich wieder ein.

    Die verdrehten Vorwürfe und das „Spitze des Eisbergs“ würd ich ihm übel nehmen, glaub ich.

    Wie fühlst Du Dich denn? Schuldig? Im Recht? Ungerecht behandelt?

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  5. ednong schreibt:

    Er über treibt mal wieder maßlos. Er sollte stattdessen lieber mal auf seine Liste der Verfehlungen gucken.

    Außerdem wäre das dann streßfreier für ihn …

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  6. breakpoint schreibt:

    SiebenhundertzweiundvierzigVor kurzem hat der Leiter der Produktion gekündigt.

    Und ausnahmsweise habe ich diesmal nichts kausal mit der Kündigung zu tun.

    Der COO hat lange mit Carsten darüber gesprochen. Er kann sich verbessern, indem er die Stelle eines stellvertretenden …

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