Vierundneunzig

Gegen dreiviertel eins nachmittags klingelte es gestern an meiner Tür.
Es war Carsten mit einer großen Schachtel „Edle Tropfen in Nuss“ in der Hand.
Er wirkte sehr zerknirscht und kleinlaut.

Ich schaltete erst mal auf kühl-distanziert: „Was willst du?“

„Kann ich reinkommen? Ich möchte mich bei dir entschuldigen für mein Benehmen gestern.“

„So.“ Da ich ihn nicht auch noch als meinen besten Kunden verlieren wollte, entschied ich mich dafür, ihn wenigstens anzuhören und ließ ihn an mir vorbei ins Wohnzimmer.
Er ließ die Pralinenschachtel auf den Couchtisch fallen und begann:
„Eigentlich war ich nicht auf dich sauer sondern auf meine Schwester, die mich alle paar Wochen anruft, sich ständig in mein Leben einmischt, mich nervt, ihre Nase überall reinsteckt, die eigentlich wissen sollte, dass ich solche Überraschungen nicht schätze. Und auf meinen Bruder, der – obwohl er hier ganz in der Nähe wohnt – es einmal im Jahr nur für nötig hält, mir eine vorgedruckte Weihnachtskarte aus seiner Praxis zu schicken und sonst nie etwas von sich hören lässt, aber bei so einer Party dann doch mitmacht.
Aber am meisten,“ er ließ sich dabei auf die Couch fallen, „am meisten sauer war ich wohl auf die Zeit, die mir davonrennt und verhindert, dass ich noch so viel machen kann.
Ich wollte diesen Tag ignorieren und einfach so verbringen wie jeden anderen. Und bis zum Abend war mir das auch gelungen. Aber dann hast du mich dorthingelockt .. OK, ich seh es jetzt ein, dass du nur die besten Absichten hattest, aber du hast den ganzen Ärger und Frust abgekriegt, der sich in mir aufgestaut hat.
Das tut mir aufrichtig leid. Obwohl mein idiotisches Verhalten selbstverständlich unverzeihlich von mir war, hoffe ich trotzdem, dass du mir vergibst.“

Eigentlich hatte ich ihm schon verziehen, aber zu leicht wollte ich es ihm auch nicht machen. Also blieb ich noch abwartend stehen.

„Bitte“, sagte er nochmal eindringlich, fast flehend, „bitte verzeih mir. So etwas wird sich nie wiederholen. Wenn ich dir irgendeinen Wunsch erfüllen kann, sag es.“

„OK“, erwiderte ich langsam, „vergeben und vergessen.“

„Außerdem“, fuhr er fort, „hattest du fast nichts an. Nur dieses Handtuch. Wie hätte ich als Mann da einen klaren und vernünftigen Gedanken fassen können.“
„Das ist allerdings ein überzeugendes Argument,“ seufzte ich und fügte im Stillen hinzu „it’s a dirty job“.

Naja, damit wäre der bisherige Status wieder hergestellt, wenn auch nicht ganz: immerhin hat Carsten zugegeben, dass ich ihn körperlich nicht kalt lasse.

Quasi als Mittagessen aßen wir dann die Schwarzwälder Kirschtorte, die noch in meinem Kühlschrank stand. Dann musste Carsten wieder ins Büro zu einem Termin eilen.

Über Anne Nühm (breakpoint)

Die Programmierschlampe.
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Eine Antwort zu Vierundneunzig

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