La dona è βettissima //1599

Ein Unbekanntes Flugobjekt mit sechs Beinen und Saugrüssel muss Carsten in die Hand gestochen oder gebissen haben. Jedenfalls entzündete sich die Stelle so sehr, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als einen Arzt aufzusuchen.
Die verordneten Antibiotika verträgt er zum Glück ganz gut.
Es ist nicht so, dass ich gerne einen Verband wechsle, aber ich kann es. Das ist schließlich wirklich keine Kunst.
Anfangs war die Mullkompresse ein paarmal fest mit der Wunde verklebt. Dann darf man die nicht mit Gewalt herunterrupfen. Es hat sich bewährt, die betreffende Stelle in einem lauwarmen Bad mit Kernseifeflocken so lange einzuweichen, bis sich der Verband von selbst löst. Das kann durchaus länger dauern, ist aber schonend und effektiv.

Als die Wunde wieder trocken war, tropfte ich einige Tropfen des Antiseptikums (Povidon-Jod) auf eine frische Kompresse. „Jetzt wirst du betaisiert“, erklärte ich, während ich die Kompresse zielgenau auf der Wunde platzierte.
„Beta-was?“
„Ach, nichts, ich überlegte nur gerade, ob es auch ein Alphaisodona gibt. Normalerweise gibt es vor der Betaversion eine Alphaversion.“
„Du meinst, das Medikament ist noch im Betatest? Die Pharmabranche muss doch gründlich testen, bevor sie ein Produkt rausgibt.“
Während ich eine Mullbinde an seiner Hand befestigte, hatte er die an andere Hand bereits zwischen meinen Beinen.
„Soweit ich mich erinnere, bedeutet Beta in der Nomenklatur der Chemiker irgendeine Ständigkeit funktioneller Gruppen an Kohlenstoffatomen. Ich vermute, dass es etwas damit zu tun hat.“
Ich räumte schnell das Verbandmaterial auf, bevor ich mich einem anderen seiner Körperteile widmete, dessen Ständigkeit längst im Release-Stadium war, ohne dass weitere Hardwareentwicklung nötig war.

Beim nächsten Verbandswechsel (bei dem die Wunde hartnäckig mit dem alten Verband verklebt war, und sich partout nicht ablösen wollte) kamen wir auf Beta-Strahlung zu sprechen. Das Antineutrino wurde damals postuliert, weil sonst die Erhaltungssätze verletzt worden wären (wir erinnern uns kurz an das Noether-Theorem, das bis auf das N|m eine Permutation ist).
Genauso legen Messungen (an denen ich gewisse Zweifel hege) nahe, dass die Ausdehnung des Universums sich beschleunigt. Um diese Messungen konsistent mit den bisherigen Modellen zu halten, wurde die Dunkle Energie (die Bezeichnung erinnert eher an Starwars oder Harry Potter) eingeführt.
„Da muss noch irgendetwas zusätzlich sein, das die Inflation beschleunigt“, meinte ich sarkastisch, „wir wissen nicht, was das ist, und haben keine Ahnung, wie es wirkt, aber das nennen wir jetzt einfach Dunkle Energie!“
„Hat nicht der Nachweis der Higgs-Bosonen diese Lücke geschlossen?“, fragte Carsten, der noch weniger auf dem neuesten Stand ist als ich, und auch nie Theoretiker war.
Ich seufzte. „Vielleicht für die Dunkle Materie. Aber ach, das passt alles nicht mehr so recht zusammen. Früher fand ich es toll, wie großartig sich die Mathematik nutzen lässt, um die Natur zu beschreiben. Aber inzwischen finde ich die Heuristik der Phänomenologie nur noch quick’n’dirty.“
„Wie meinst du das?“
„Beispielsweise die Kosmologische Konstante. Die dreht man sich einfach so hin, wie man sie gerade braucht. Oder die renormierten Eichtheorien. Wenn sich irgendwelche Singularitäten ergeben, dann werden die so durch Eichfaktoren umskaliert, dass sie sich wieder wegheben.“
„Wenn ich mich recht erinnere, ist das doch gerade der Sinn der Eichung.“
„Rein pragmatisch gesehen schon. Bloß was hat das wirklich noch mit der Natur zu tun?“
„Tja .. was willst du dagegen tun? Die Natur ist undurchschaubar und widerspenstig. Fast so wie du, meine Süße.“ Mit der freien Hand fasste er nach meinen Backen, aber ich drehte mich schnell zur Seite, da ich in der Seifenlauge den Zustand der verklebten Kompresse überprüfen wollte.
„Ich halte mich da raus, und beschränke mich auf meine mathematischen Räume. Da ist wenigstens von vornherein klar, dass es sich nur um ideell-abstrakte Konstrukte handelt, die höchstens einen zufälligen Realitätsbezug haben können.“
Endlich löste sich der Rest des Verbandes von der Wunde. Während ich die Wunde reinigte, sprach Carsten weiter: „Die Allgemeine Relativitätstheorie ist doch etabliert, und durch Beobachtungen und Experimente bestätigt.“
„Ich sage ja gar nicht, dass sie falsch ist, aber eben wohl doch nicht der Weisheit letzter Schluss. Solange die Kosmologische Konstante so willkürlich ist, deutet für mich alles darauf hin, dass sie auch nur lediglich eine Näherung – in dem uns durch Beobachtung zugänglichen Universum – für eine noch umfassendere Theorie ist. Und diese Theorie sollte dann auch gleich noch mindestens das Standardmodell abdecken.“
„Strings?“
„Ich hab‘ keinen an. Nee, ernsthaft, das scheint mir auch eine Sackgasse zu sein.“
Während ich eine betaisodonisierte Kompresse auf seine Wunde legte, fuhr ich fort: „Vielleicht sollte man einmal einen ganz neuen Ansatz wagen. Beispielsweise, dass die Lichtgeschwindigkeit doch nicht so völlig konstant ist, und kurz nach dem Urknall einen etwas anderen Wert hatte.“
„Mit einer variablen Lichtgeschwindigkeit stürzt du das ganze Theoriengebäude ein.“
Ich wickelte eine neue Mullbinde um seine Hand und befestigte sie. „Wieso? In Materie hast du auch eine andere Lichtgeschwindigkeit als im Vakuum. Siehe Maxwell. Mit ferromagnetischen Verzögerungskabeln kannst du die Ausbreitungsgeschwindigkeit von elektrischem Strom ganz schön runterbremsen. Ich meinte aber gar keine größere Änderung, sondern höchstens wenige Prozente seit dem Urknall. So ein Zusatzterm d my c ungleich Null [∂μc ≠ 0]. Das ergäbe ganz neue Effekte, mit denen sich etwa die beschleunigte Inflation des Universums zwanglos als Scheinphänomen erklären ließe. Für unsere übliche Naturbeschreibung ändert sich nichts, da die nach wie vor eine Näherung nullter Ordnung für konstantes c ist. Alles was höherer Ordnung ist, bleibt vernachlässigbar und ist im gewöhnlichen Gültigkeitsbereich unerheblich.“
„Dann wäre aber Schluss mit deinen natürliche Einheiten. Wenn c nicht mehr konstant ist, kannst du es nicht einfach gleich eins setzen.“
Ich zog ihm eine Grimasse ob dieser Frechheit (was muss er mich auch immer so aufziehen!), während ich den Verband mit einem zusätzlichen Pflaster fixierte. „Dann muss man bei Lorentztransformationen halt wieder das Beta mitschleppen, weil es dann nicht mehr identisch mit der Geschwindigkeit ist.“
Bevor ich den Mullmüll entsorgte, schlug ich ihm (rücksichtsvoll in Anbetracht seiner aufgrund der Wunde kaum einsatzfähigen Hand) vor: „Leg‘ dich schon mal ins Betaber schlaf‘ nicht ein.“

Über Anne Nühm (breakpoint)

Die Programmierschlampe.
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11 Antworten zu La dona è βettissima //1599

  1. Plietsche Jung schreibt:

    Zwei Nerds beim Verbinden…. #hilfe#

    Kauf anständige Verbände, dann klebt auch nichts 🙂

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  2. Leser schreibt:

    Beim Lesen der Überschrift dachte ich erst, die sollte doch korrekterweise jetzt so geschrieben werden: La dona è ẞettissima? Doch dann fiel mir auf, dass das ja gar kein ß war, sondern ein β.

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    • Ja, beta statt scharfem S,
      Das große Beta sieht ähnlich wie ein B aus: Β
      Das neue große scharfe S habe ich bisher noch nicht benutzt, und gedenke auch nicht, es in meinen aktiven Zeichenschatz aufzunehmen.

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      • Leser schreibt:

        Ich hab es neulich auf meiner Tastatur gefunden (Alt Gr+Shift+S), aber mir ist noch nicht klar, wo man es für einsetzen sollte. Es gibt in der deutschen Sprache kein Wort, was mit ß anfängt, und wenn es eins gäbe, müsste es auch noch am Satzanfang stehen, um das ẞ dafür zu benutzen, oder ein Substantiv sein. Von daher kann man es eigentlich nur benutzen, um darüber selbst etwas zu schreiben 🙂

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