Noch weiter weg //3011

Eigentlich hätten wir den gestrigen Abend schön entspannt begehen können. Ich hatte sogar extra ein paar Stücke Torte für uns vom Konditor besorgt.
Als ich die Einladung von Benjamin bekommen hatte, war noch nicht absehbar gewesen, wie sich unsere Unterhaltung darüber entwickeln würde. Benjamin hatte mir schon öfter angeboten, ihn zu besuchen. Aber er wohnt einfach zu weit weg. Da wäre ich einen ganzen Tag unterwegs, um hinzukommen, und wieder einen Tag für den Heimweg. Das lohnt einfach nicht, es sei denn, ich bliebe wirklich mehrere Tage dort.
Genau darauf zielte Benjamin’s Einladung ab. Im kommenden Semester richtet er dort eine kleine Veranstaltung aus, und hätte mich gerne dabei, um meine wissenschaftlichen Erkenntnisse vorzustellen und zu diskutieren. Es reizt mich schon, daran teilzunehmen und mich mit anderen Mathematikern auszutauschen. Freilich müsste ich insgesamt fünf oder sechs Tage einplanen, damit sich die Reise auch rentiert. Das Wetter soll zu dieser Jahreszeit dort wunderschön sein – fast wie im Urlaub.

Vielleicht wäre es günstiger gewesen, das Gespräch darüber mit Carsten erst ein oder zwei Tage aufzuschieben. Allerdings hätte das wohl auch nicht viel geändert.
„Du willst fast eine ganze Woche lang dorthin?“
„Wegen einem oder zwei Tagen lohnt sich die Reise nicht, weil ich viel zu lange unterwegs bin. Als du damals in Schweden warst, warst du auch so lange weg.“
„Dort war ich geschäftlich. Was ist mit Johannes?“
„Du wirst dich schon die paar Tage um ihn kümmern können. Als du kürzlich auf Skiurlaub warst, habe ich das schließlich auch gemacht, obwohl ich krank war.“
„Zwei oder drei Tage wären ja OK, aber keine ganze Woche.“
„Vielleicht kann ich es auf vier Tage reduzieren, aber kürzer geht wirklich nicht. Und dann hätte ich auch überhaupt keine Chance, etwas von der Gegend oder den Sehenswürdigkeiten mitzukriegen.“

„Wenn du wenigstens einen stichhaltigen Grund hättest, aber so wie es aussieht, ist es reines Privatvergnügen.“
„Wie bei dir im Skiurlaub. Ich baue damit immerhin mein wissenschaftliches Renommee aus. Das ist dir doch sonst so wichtig, weil es PR für die Firma ist.“ Zwar habe ich inzwischen schon länger kein Paper mehr veröffentlicht. Das bedeutet aber nicht, dass ich meine wissenschaftliche Arbeit ganz an den Nagel gehängt hätte. Es ist einfach so, dass sich durch familiäre und geschäftliche Verpflichtungen die Prioritäten so verschoben haben, dass mir im Alltag kaum noch Zeit für Forschung bleibt. Aber ich werde schon mal wieder die nötige Inspiration, Ruhe und Muße dafür finden. Auch deshalb ist es mir wichtig, die Einladung anzunehmen, um den akademischen Kontakt mit anderen Wissenschaftlern zu erhalten.
„Die Vorteile für die Firma dürften bei dieser Klitschenuni vernachlässigbar sein.“
„Nur weil du sie nicht kennst, ist die Uni dort keine Klitsche.“
„Aber doch höchstens von regionaler Bedeutung.“
Ich ließ mich nicht auf eine Diskussion dieses Themas ein. Es gibt bestimmt wichtigere und bekanntere Hochschulen. In einigen Fachgebieten genießt sie dennoch international einen hervorragenden Ruf, und ist längst zur Senke des Brain Drains geworden. Sonst hätte Benjamin den Lehrstuhl dort gar nicht übernommen.

„Du willst also nicht, dass ich meinen Doktorvater treffe“, sagte ich Carsten auf den Kopf zu.
„Sehr väterlich verhält der sich gegenüber dir nicht. Warum übernachtest du nicht in einem Hotel?“
„Benjamin hat ein Gästezimmer, in dem er öfters Kollegen übernachten lässt. Warum sollte ich Geld für ein Hotel ausgeben? Außerdem wäre es umständlich, vom Hotel zur Uni zu kommen. Wenn ich im Gästezimmer schlafe, kann ich ganz einfach bei Benjamin mit zur Uni fahren.“
„Das überzeugt mich nicht.“
„Du kannst völlig beruhigt sein. Benjamin hat seit einiger Zeit dort eine Freundin.“
„Und wohnt die bei ihm?“
Ich musste zugeben, dass ich das nicht weiß. „Wir unterhalten uns eigentlich kaum über solche privaten Angelegenheiten.“

Das Gespräch ging noch eine Weile so hin und her. Aber ich habe schon mehr Zeit für die Protokollierung aufgewendet, als ich eigentlich habe.
Ohne Johannes‘ Anwesenheit hätten wir die Sache anders klären können. So ist Carsten jetzt verärgert, weil ich trotz seiner Einwände die Sache durchziehen will.

Über Anne Nühm (breakpoint)

Die Programmierschlampe.
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11 Antworten zu Noch weiter weg //3011

  1. pirx1 schreibt:

    Es soll ja durchaus Ehen geben, in denen ein Partner das Selbstbestimmungsrecht an der Pforte abgibt und ungleich verteilte Rechte und Pflichten selbstverständlich sind. Aber ist eine „Partnerschaft“, in der man für das eigene Verhalten um Erlaubnis fragen muss überhaupt der Mühe und die Bezeichnung wert?

    Wer sich als kleiner König versteht, der sich z. B. auf keinen Fall um seinen kleine Prinzen kümmern kann, wenn die Vorzeig-Gespiel-Wasch-Putz-Koch-Kinderaufpass-Haushälterin Urlaub hat, der hat es in meinen Augen verdient, dass er sehr einsam stirbt.

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    • Mia schreibt:

      Ich denke eher, ihm geht es nicht vorrangig um’s Kindhüten, sondern vielmehr darum, dass er befürchtet, seine Frau könnte „auslatschen“.

      Zitat: „„Sehr väterlich verhält der sich gegenüber dir nicht. Warum übernachtest du nicht in einem Hotel?“

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    • In einer Partnerschaft spricht man selbstverständlich solche Vorhaben miteinander ab. Das hat nichts mit „um Erlaubnis fragen“ zu tun.
      Man stellt, den anderen doch nicht vor vollendete Tatsachen, insbesondere, wenn man gemeinsame Verantwortlichkeiten trägt.
      Das bedeutet aber halt noch lange nicht, das dem anderen das auch gefallen muss.

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    • pirx1 schreibt:

      Grundsätzlich ist jede Beziehung eine Frage von gemeinsamen Vereinbarungen, die nur die jeweiligen Partner angehen. Ich teile also nur meine Gedanken zum Thema mit, die natürlich jeder andere individuell anders haben kann und wird.

      Ich sähe allerdings keinerlei Berechtigung, verärgert zu sein, wenn meine Partnerin genau das täte, was ich selber für mich beanspruche.

      Was das „Auslatschen“ angeht (diesen Begriff kenne ich im Beziehungszusammenhang nicht, sondern nur bei alten Schuhen, kann mir aber vorstellen, was gemeint sein soll): Wenn in einer monogam vereinbarten Beziehung so wenig Vertrauen besteht, was wäre diese Partnerschaft dann wert? Umgekehrt erfreuen sich aber manche Paare wohl auch an der Eifersucht des anderen und verstehen das als besonderen Liebesbeweis.

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  2. Plietsche Jung schreibt:

    Da müsst ihr wohl nochmal reden. Den Kopf durchzusetzen, kann in diesem Fall sehr verletzend sein. Das kann heftige Gegenreaktionen bewirken.

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