Lasst uns zusammen mal ein Gedankenexperiment machen. Stellt euch unsere Erde vor, wie sie vor zehn oder zwanzig Millionen Jahren war. Versetzt euch meinetwegen in einen Außerirdischen oder Zeitreisenden.
Damals gab es noch keine Menschen, aber bereits Primaten. Die Welt, die ihr beobachtet, ist frei von jeglicher menschlicher Kultur oder Artefakten.
Jetzt schaut euch um nach einfachen Formen. Was seht ihr?
Bäume bestehen aus einem mehr oder weniger zylindrischen Stamm. Manche Berge erinnern an Kegel. Viele Objekte kann man sich denken als zusammengesetzt aus Kugelsegmenten, Kegelstümpfen und Zylindern.
Ihr seht Beeren oder andere Früchte, die kugelförmig oder ellipsoidal sind. Der Vollmond erscheint kreisrund.
Sogar hexagonale Strukturen finden sich in Bienenwaben oder Basaltsäulen.
Aber wo sind (gleichseitige) Dreiecke? Wo sind Quadrate oder oblonge Rechtecke?
Ich habe lange überlegt, ohne dass mir etwas eingefallen wäre. Klar sind das zweidimensionale Objekte. Die Natur (wie sie uns vertraut ist) ist dreidimensional, also dürften dreidimensionale Objekte vorherrschen (von eher flächigen Strukturen wie etwa Blättern abgesehen). Aber wo sind Tetraeder, Oktaeder, Würfel? Klammern wir mal Kristalle mit ihrer Gitterstruktur aus, so wird es schwierig, in der Natur einen der direkten Beobachtung zugänglichen 90-Grad-Winkel [der nicht auf der Normalen auf die Erdoberfläche beruht] zu finden. (Ja, mit entsprechendem Hintergrundwissen gibt es das schon, aber die ersten Menschen konnten davon noch nichts wissen.)
Wie also ist die Menschheit vor zigtausenden Jahren darauf gekommen, dass es Rechtecke gibt?
Wenn ich so um mich herumschaue, so sind überall Rechtecke: mein Computerbildschirm, die Schreibtischoberfläche, Bücher, das Fenster, der Wandkalender, .. All das ist menschengemacht und erscheint uns so selbstverständlich, aber die Natur liefert eigentlich kein Vorbild dafür. Wie also ist es zu dieser enormen geistigen Leistung und Errungenschaft gekommen? Die Erfindung des Rades war ein Meilenstein. Aber ein kreisförmiges Rad hat immerhin als Vorbild die Vollmondscheibe.
Wann ist die Menschheit zuerst darauf gekommen, dass ein rechter Winkel etwas ganz besonderes ist?
[Die plakative Überschrift ist zugegebenermaßen nicht ganz zutreffend. Es gibt schon Kanten (z.B. scharfkantige Gräser oder Bruchkanten an Steinen), aber in den allermeisten Fällen sind die Übergänge in der Natur runder, glatter, fließender, kontinuierlich.]
Als die Urmenschen so allmählich anfingen, sich des sapientes würdig zu erweisen (was heutzutage längst nicht mehr allen gelingt), war das Konzept der Zahlen naheliegend, um einzelne Entitäten zu zählen. Es gab eine (natürliche) Zahl von Personen in der Sippe, von erlegten Tieren, von Bäumen, von Steinen, .. jeder Mensch hatte zwei Augen, zwei Ohren, zwei Hände, zehn Finger, .. Die Null oder negative Zahlen erhielten wohl erst viel später eine Bedeutung, vermutlich, als jemand Schulden machte. Rationale Zahlen waren sinnvoll, wenn man die Nahrung aufteilte – ein halber oder ein viertel Apfel. Algebraisch-irrationale Zahlen wurden erst dann interessant, als es nötig wurde, z.B. Diagonalen von Rechtecken (!) zu berechnen. Transzendente Zahlen brauchte man schließlich, um z.B. den Umfang oder die Fläche eines Kreises zu berechnen.
Damit war die reelle Zahlenachse vollständig. Ich sehe nicht, wie in einem anderen Universum dieser mathematische Körper anders sein sollte.
Die Beobachtung des Verlaufs von Tag und Nacht, von Jahreszeiten, des Nachthimmels, Wetterveränderungen und weiteren Naturphänomenen führte dazu, dass die Menschheit schon früh dafür Erklärungen suchte (die allerdings nicht unbedingt richtig waren).
Offensichtlich leben wir in einem dreidimensionalen Raum, in dem sich Gegenstände bewegen können.
An diesem Punkt setzt die Newton-Mechanik ein. Die träge Masse lässt sich durch eine Kraft beschleunigen. Hier werden „Masse“ und „Kraft“ so definiert, dass es eben passt. Kraft ist genau das, was die Bewegung eines Körpers verändert.
Zu unserem Glück ist unsere Natur derart strukturiert, dass hier einfache lineare Zusammenhänge gelten, die sich mit verhältnismäßig simplen mathematischen Mitteln tatsächlich so gut beschreiben lassen.
Warum die Natur so ist, wie sie ist, ist dagegen eine andere Frage. Es existieren einige grundlegende Konzepte wie Topologie, Symmetrien [vgl. Noether-Theorem – ich komme ja gelegentlich in der Stadt an ihrem Geburtshaus vorbei oder beim Spaziergang an ihrer Schule], Stochastik, Extremalprinzipien, die den Spielraum der Natur rein mathematisch begrenzen.
Wissenswertes über Erlangen
LikeGefällt 1 Person
Ω stammt nicht aus dem Sauerland.

LikeGefällt 1 Person
interessante gedanken. danke.
LikeGefällt 1 Person
Freut mich, wenn ich Denkanstöße geben konnte.
LikeGefällt 1 Person
dann sei diese freude dein 😉
LikeGefällt 1 Person
Wie wäre unsere dimensionale Wahrnehmung, Kommunikation, Interaktion, Mathematik, wenn die Reise durch Wurmlöcher für uns bewusste Alltagserfahrung und unsere Zeitwahrnehmung nicht streng linear wäre (siehe Utopien in „Arrival“ oder „Déjà Vu“) ? Welches Bewusstsein hat ein einäugiges oder blindes Tier in Bezug auf eine zweite, dritte Dimension?
Liegt unsere beschränkte Vorstellungskraft nicht in uns selbst, in unseren Bauprinzipien?
LikeGefällt 2 Personen
Das ist eben die Frage, inwieweit unser beschränkter Geist und unser sehr schmaler Beobachtungsbereich die Interpretation der Wirklichkeit begrenzen.
Ich komme wieder auf das Anthropische Prinzip. Wir konnten uns evolutionär ja gar nicht anders entwickeln, als so, dass wir in unsere Welt hineinpassen. Und unsere Naturerkenntnis und beschreibende Mathematik beruhen wohl ebenso auf Trial and Error. Was inkonsistent war, wurde verworfen.
LikeGefällt 2 Personen
Ja, stimme ich dir völlig zu. Besonders diese Sache mit dem beschränkten Geist begegnet mir im Alltag im öfter.
LikeGefällt 2 Personen
Wann ist die Menschheit zuerst darauf gekommen, dass ein rechter Winkel etwas ganz besonderes ist?
Ich denke ziemlich früh. Man braucht nur Symmetrie und Optimierung dafür. Symmetrien kann man sehr einfach sehen, und Optimierung war vor zehntausenden Jahren lebensnotwendig weil jede unnötige Vergeudung von Ressourcen schwere Folgen haben konnte.
LikeGefällt 2 Personen
Ob das so einfach war?
Uns modernen Menschen erscheint es einleuchtend und intuitiv. Aber wir sind auch in einer Welt voller rechter Winkel aufgewachsen.
Ich könnte mir vorstellen, dass – als die ersten Hütten (oder Zäune, Begrenzungen, ..) gebaut wurden – es sich herausstellte, dass rechte Winkel praktisch sind, egal ob man Holzbalken oder Lehmquader nutzte.
Nomadisierende Jäger und Sammler hatten ja kaum Verwendung dafür, aber mit der Sesshaftwerdung hat sich das bestimmt geändert.
LikeLike
Mir ist warm …
LikeLike
Besser als zu frieren.
LikeGefällt 1 Person
Ich friere lieber …
LikeLike
Ziemlich unverfroren!
LikeGefällt 1 Person
Ach nöö ….
LikeLike
Cool oder? Sommer!!!
LikeGefällt 1 Person
Ja, muss so sein. Jede Jahreszeit hat ihren Reiz.
LikeGefällt 1 Person
Beim Militär (am Boden) gelten rechtwinklige Kanten als gefährlich. Weil sie die Tarnung beeinträchtigen – und zwar genau aus dem von dir genannten Grund. Die Natur kennt nahezu keine rechten Winkel, also fallen diese im Gelände auf. Selbst Helme mit einer gleichmäßig fabrizierten, runden Kante möchte man im Urwald lieber nicht, sondern lieber wellige Hüte aus Stoff.
LikeGefällt 1 Person
Ja, stimmt. In der Natur würden eine gerade Linie oder ein rechter Winkel schnell auffallen.
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass das menschliche Gehirn dazu tendiert, selbst in unstrukturierter Umgebung Gesichter zu entdecken, obwohl da gar keine sind.
LikeLike
Pingback: Noch mehr Junitweets //2690 | breakpoint
Pingback: breakplaining: Platonische Körper //2851 | breakpoint