Mathemystik und Wirklichkeit der Natur //2371

Sicher erinnert ihr euch aus eurer Schulzeit noch an das Ohm’sche Gesetz, das einen proportionalen Zusammenhang zwischen elektrischer Spannung U und Stromstärke I beschreibt. Ich will jetzt nicht auf Feinheiten hinaus, also spart euch das „aber“.
Mir geht es um etwas anderes. Für Ohm’sche Widerstände R gilt die bekannte Formel U = R * I [Wer in den hintersten Reihen hat da schon wieder geabert? Ich sagte doch, dass ich auf etwas anderes hinaus will. Da sind Feinheiten wie die Temperaturabhängigkeit irrelevant.] und zwar sowohl für Gleich- als auch für Wechselstrom.
Bringt man eine Spule in einen Gleichstromkreis, so trägt diese zum Gesamtwiderstand nur ihren Ohm’schen Widerstand bei (im folgenden werde ich den ignorieren, und nur „ideale“ Spulen ohne Ohm’schen Widerstand betrachten). Ein Kondensator in einem Gleichstromkreis unterbricht diesen.
Bei Wechselstrom (mit der Kreisfrequenz omega) wird die Sache sehr interessant. Der Ohm’sche Widerstand hat nach wie vor den Widerstand R. Eine Spule mit der Induktivität L jedoch omega * L, und ein Kondensator mit der Kapazität C leistet den Widerstand 1/(omega * C).
Noch viel lustiger wird es, wenn man weiß, dass bei Spule bzw. Kondensator eine Phasenverschiebung zwischen elektrischer Spannung und Stromstärke auftritt. Jetzt kommt nämlich der Clou: Durch die Einführung komplexer Wechselstromwiderstände Z lassen sich Stromkreise (mit passiven Bauelementen) wunderbar elegant mathematisch beschreiben. Für Ohm’sche Widerstände gilt Z = R, für Induktivitäten ist Z = i * omega * L, und für Kapazitäten Z = 1/(i * omega * C).
Als ich dies zum ersten Mal erfahren hatte war ich absolut beeindruckt und begeistert!
Aber irgendwann war die Euphorie weg. Bei elektrischen Strömen gibt es nicht wirklich imaginäre Anteile. Das ist ein reiner mathematischer Taschenspielertrick.
So faszinierend komplexe Zahlen auch sind, wären sie vermutlich nur – wie so viele andere mathematische Konstrukte – lediglich ein Kuriosum im mathematischen Kabinett geblieben, wären sie nicht passend gewesen, um ausgewählte Phänomene der Natur und Technik zu modellieren.

Je komplizierter die Natur sich verhält, desto umständlicher wird auch die Mathematik, mit der wir sie beschreiben. Mögen die Newton’schen Gesetze noch einigermaßen einsichtig sein und (mit unseren modernen Erkenntnissen und Erfahrungen) intuitiv erscheinen, gilt das für die Quantenmechanik und Relativitätstheorie schon lange nicht mehr.
Bereits Lagrange- oder Hamiltonfunktionen wurden so hingetrickst, dass sie zusammen mit den entsprechenden Formalismen Differentialgleichungen ergeben, die – alternativ zum Newtonformalismus (und durchaus mit zusätzlichen Vorteilen) – mechanische Bewegungen beschreiben. Bei Renormierungstheorien merkt man diese Gaugelei noch krasser.
Die Frage stellt sich: Was ist überhaupt noch Natur? Und was nur noch mathematisches Modell, dessen Ergebnisse Aspekte der Natur zwar einigermaßen vorhersagen kann, aber nicht wirklich abbilden?
Was sind die Grundlagen unserer Welt? Eine reduktionistischer Ansatz, der lediglich mathematische Konzepte benutzt, kann’s doch wohl nicht sein. In unserem Kosmos existiert offensichtlich Materie. Wir beobachten ein Raum-Zeit-Kontinuum. Wie erwächst dieses? Und aus was? Das sind ontologische Fragen, auf die die Mathematik nur begrenzt anwendbar ist. Mathematik ist lediglich eine Beschreibungssprache, aber kann nichts grundlegendes erklären.

Topologie, Symmetrien (bzw. über das Noethertheorem Erhaltungsgrößen) und vielleicht noch das auf Variationsrechnung beruhende Hamilton’sche Prinzip (mit einer heuristisch zu definierenden „Wirkung“) scheinen universell. Oder ist das auch nur unser subjektiv-anthropischer Blickwinkel?

Über Anne Nühm (breakpoint)

Die Programmierschlampe.
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21 Antworten zu Mathemystik und Wirklichkeit der Natur //2371

  1. ednong schreibt:

    Wie und was schreibt ihr denn Kommentar, wenn die betroffen sind? Haben die solcherlei Gefühle, die Kommentare?

    😉

    Und ja, Mathe ist faszinierend, sicher aber nicht die universale Sprache, um alles abbilden zu können. Ist HTML ja auch nicht.

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  2. Murdoch schreibt:

    Vorzueglich um auf Bill Gaede und seine Kritik an Mathemagicians hinzuweisen. 😉

    Ja. Sehe auch nur 3 von 6 Kommentaren.

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  3. ednong schreibt:

    Ähm,
    ich sehe alle betroffenen Kommentare. Mit Chrome und Vivaldi getestet – unter Android und Kubuntu.
    Mit Firefox mochte ich jetzt nicht auch noch …

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  4. Pingback: Tweets im Umbruch //2476 | breakpoint

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