„Sei du selbst!“ //2301

Immer wieder mal liest man einen Ratschlag wie „Sei du selbst“ oder „Sei so, wie du bist“.
Mit Verlaub – das ist ein Schmarren. Man kann nicht anders sein, als man ohnehin ist. Denn schließlich ist man ja genau so, wie man selbst eben ist. Solche Aufforderungen sind bestenfalls Tautologien. Mir dünkt jedoch, die sind eigentlich gemeint als Vorwand, andere Leute kaltschnäuzig vor den Kopf stoßen zu dürfen.
Nach dem, was so im Kontext noch steht, bedeutet dieses Selbstsein, egoistisch und rücksichtlos nur die eigenen Befindlichkeiten durchzusetzen. Was andere davon halten – egal!

Letzte Woche ein Versprechen gegeben? „Pfft. Keine Lust, das einzuhalten. Brauche keine Erwartungen zu erfüllen. Ich bin, wie bin.“
Andere Leute fair und anständig behandeln? „Pfft. Habe andere Wünsche. So bin ich halt.“
Dies wird zum Allheilmittel hochstilisiert: „Du wirst beliebt, du wirst erfolgreich, du wirst, was immer du dir wünscht!“

Versteht mich nicht falsch – ein gesunder Egoismus ist richtig und wichtig. Das will ich niemandem ausreden. Aber was da im Rahmen von „Selbstsein“ propagiert wird, läuft darauf hinaus, nur noch solipsistisch sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen, und zwar ohne die geringste Rücksicht auf die Bedürfnisse anderer zu nehmen. Und dies selbstgefällig zu rechtfertigen, dass man ja nur man „selbst“ sei.
Dass die Freiheiten, die diese Personen sich einfach nehmen, andere wieder beeinträchtigen, kommt ihnen nicht in den Sinn.
Dieses „Selbstsein“ ist einfach eine Ausrede, sich vor seinen Verpflichtungen zu drücken, und keinerlei Verantwortung tragen zu müssen. Damit rechtfertigt man, seinem inneren Schweinehund alles durchgehen zu lassen.
Auch wenn ich nicht allzu viel von Kant halte, würde dennoch unsere gesamte Gesellschaft zusammenbrechen, wenn jeder sich im Sinne seines Imperativs an dieses „Selbstsein“ hielte, und nur noch nach aktueller Laune handeln würde.

Wenn wenigstens grundlegend anzunehmen wäre, dass eine angenehme Persönlichkeit hervorkäme. Aber gerade bei den Personen, die das „Selbstsein“ so propagieren, steckt die am wenigsten dahinter. Insbesondere bei denen besteht ein enormes Verbesserungspotential, und sie täten gut daran, an ihrer Persönlichkeitsentwicklung zu arbeiten.

Und nur um es noch einmal ausdrücklich klarzustellen: Wäre der Kontext „Du brauchst dich nicht zu verstellen, verhalte dich ganz natürlich, zeig deine Authentizität“, hätte ich diesen Text nicht geschrieben. In den allermeisten Fällen bedeutet dieses Selbst-Sein jedoch in der Praxis: Nimm auf niemanden Rücksicht, tu nur das, nach was dir gerade im Augenblick ist, ohne irgendwelche Folgen und Konsequenzen zu bedenken.
Wenn man schon diese Einstellung hat, sollte man sich selbst gegenüber wenigstens ehrlich genug sein, das auch so zu benennen und zuzugeben.

Auf der anderen Seite gibt es ja auch den Spruch „fake it till you make it“. Solange man es nicht übertreibt, hat der ja durchaus etwas für sich. Erwünschte Verhaltensweisen kann man bis zu einem gewissen Grad einüben und erlernen, bis sie einem ganz natürlich werden.

Über Anne Nühm (breakpoint)

Die Programmierschlampe.
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10 Antworten zu „Sei du selbst!“ //2301

  1. blindfoldedwoman schreibt:

    Von solchen Menschen sollte man sich möglichst fernhalten.

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  2. keloph schreibt:

    Die Wahrheit liegt sicher in der Mitte. Was mich sehr stört, ist das Konzept der Selbstverwirklichung, ich bin ich, sobald andere dabei leiden. Man sollte merken, bemerken und darauf achten, wenn es soweit kommt. Und genau das passiert zunehmend seltener. Und genau das ist das Üble daran.

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  3. Plietsche Jung schreibt:

    Natürlich gibt es Schauspieler, einigen Menschen gelingt es sogar gut.
    Verantwortung zu übernehmen ist heute Mangelware, denn es finden sich viele Menschen fehlerfrei, da es ihnen an Selbstreflektion fehlt.

    Eine ziemlich schwache Generation, die sich da entwickelt.

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  4. Leser schreibt:

    Huch, hier gabs ja schon einen post-rekonvaleszenz-Blogeintrag, den hab ich eben gar nicht gesehen – nicht weit genug runtergescrollt. Also: Ja, man selbst sein ist wichtig, aber eben dabei auch ehrlich zu sich selbst und auch sich selbst reflektierend – sonst ist man ja gar nicht wirklich man selbst, sondern ahmt zu schnell Verhalten nach, was man wo gesehen hat.
    Und dann gibt es eben durchaus auch ein valides Eigeninteresse daran, verantwortungsvoll zu sein und anderen gegenüber Rücksicht zu nehmen. Weil man eben auch die Folgen seines Verhaltens abzuschätzen vermag. Natürlich heißt man selbst sein nicht, sich wie ein Kind (also wie eine Axt im Wald, was auf der zwischenmenschlichen Ebene ja oft dasselbe ist) zu verhalten, aber eigentlich sollte man von erwachsenen Menschen erwarten, dass sie diese Lernleistung bereits getätigt haben.

    Von „fake it till you make it“ halte ich jedoch nichts, Schauspielern und Unauthentisch sein ist mir ein Graus. Also, ich selbst kann es nicht mal (und will es auch nicht können), und wenn ich solchen Menschen begegne, bemerke ich früher oder später immer irgend etwas absolut verachtenswertes an ihrem Verhalten. Z.B. sich hinter dem Rücken das Maul zerreißen, aber vornherum auf lieb und gut tun, oder ähnliches.

    Als alter Freizeitanarcho muss ich jedoch auch den Zusammenbruchsvisionen unserer Gesellschaft widersprechen – irgendwann würden die Menschen, dass die goldene Regel – „Was Du nicht wünschst, das man Dir tu, das füg‘ auch keinem andern zu“ – durchaus ihren Sinn und ihre Existenzberechtigung hat, und dass es tatsächlich im eigenen Interesse ist, danach zu leben.

    Alles andere ist wie mit dem Kapitalismus, der soll auch auf einen möglichst freien Markt treffen und sich ungehindert gebaren dürfen – außer es ist mal wieder ein Bailout nötig, dann soll bitteschön die Allgemeinheit dafür aufkommen, dass jemand das unternehmerische Risiko falsch eingeschätzt hat…

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