Die Enttarnung des Schrödingergeschlechts //2176

Fiona hatte kurzfristig angekündigt, dass sie samt Anhang uns besuchen würden. Sie seien auf der Durchreise und wollten nur kurz auf einen Kaffee vorbeischauen.
Carsten hätte ablehnen können, aber er freute sich, seine jüngere Tochter wiederzusehen und sein Enkelchen kennenzulernen. Eine Übernachtung hätte er allerdings nicht zugelassen.
Wir hatten nicht viel Zeit für Vorbereitungen und arrangierten es so, dass Carsten u.a. Kuchen, und ich ein Geschenk für sein Enkelchen besorgen würde.
Ja, es ist voll das Klischee, aber wir wussten nicht, ob Kim ein Mädchen oder Junge ist. Fiona hatte sich nie eindeutig dazu geäußert. Auf den wenigen Fotos trug das Baby immer neutrale Kleidung. Ich wusste also nicht recht, was für ein Geschenk ich kaufen soll, und kaufte eben zwei verschiedene.

Nachmittags kamen sie dann an. Fiona sah abgespannt und müde aus, Corinna resoluter denn je. Kim schlief in einem Kindersitz, so dass Fiona und Corinna erst einmal stritten, ob sie den Kindersitz ins Haus tragen sollten, oder Kim im Auto lassen.
Während des Wortwechsels wachte Kim dann auf und weinte.
Kleine Jungen sehen so niedlich aus, wenn sie bubig kurze Haare haben. Kleine Mädchen sehen entzückend aus, wenn ihre Haare mit Spangen oder Gummis gebändigt sind. Bei einer bestimmten Haarlänge sieht es aber einfach nur ungepflegt und nachlässig aus, wenn die Haare weder geschnitten noch frisiert sind.
Fiona nahm Kim aus dem Kindersitz und trug es ins Haus. Corinna brachte einen Korb mit irgendwelchen Kinderbreien, Keksen und Kindertee. Für die Verköstigung des Kleinkindes sorgten sie wenigstens selbst.
Nachdem Kim etwas getrunken hatte, blieb es einen Keks knabbernd neben dem Tisch stehen. Corinna drängte Fiona, Kim schleunigst die Windel zu wechseln, obwohl Fiona sichtlich erschöpft war. Schließlich verschwand letztere mit Kim im Bad, wodurch wir wieder keine Gelegenheit hatten, festzustellen, ob Kim jetzt Junge oder Mädchen ist.

Aber ich hatte ja noch die Geschenke. Beide Kartons waren grellbunt eingepackt, ohne dass man von außen auf den Inhalt hätte schließen können.
Kim öffnete zuerst das etwas größere Geschenk, das eine schöne Babypuppe samt Zubehör beinhaltete. Ohne sich länger damit aufzuhalten, riss Kim dann die andere Verpackung auf. Ein Spielzeugfeuerwehrauto mit mehreren Tasten, die verschiedenene Geräusche abspielen konnten, trat zu Tage.
Bevor Kim jedoch sich damit beschäftigen konnte, riss ihm Corinna das Feuerwehrauto aus den Händen, und drückte ihm stattdessen die Puppe in die Arme. Kim fing an zu schreien, woraufhin Fiona seine Partei ergriff, und Corinna aufforderte, ihm doch wieder das Spielzeugauto zu geben.
So ging das noch eine Weile. Schließlich schmiss Kim die Puppe auf den Boden, und Fiona schaffte es, ihm das Auto an Corinna vorbei zu geben. Kim drückte an den Knöpfen herum, lachte fröhlich (einen Augenblick lang erschien sein Gesicht wie eine Überlagerung von Carsten und Raphael), als die Geräusche gespielt wurden, und war zufrieden. (Auch wenn es für uns, die wir zuhören mussten, mehr und mehr enervierend wurde.)

Endlich kamen wir dazu, uns an den Kaffeetisch zu setzen.
Es hätte mich nicht gewundert, wenn Corinna nur noch vegan gegessen hätte. Da wäre sie dann aber leer ausgegangen. Stattdessen griff sie reichlich bei den Torten zu. Man sieht ihr eigentlich durchaus an, dass sie das sonst auch macht.
Fiona aß wesentlich zurückhaltender, und Kim musste sich mit ein paar mitgebrachten Vollkornkeksen und Zwieback begnügen.

Corinna wiederholte ihr „Angebot“, sich anwaltlich um die Firma zu kümmern.
„Das Hausverbot besteht weiterhin!“, wischte Carsten ihren Vorschlag lakonisch zur Seite. Sie hob zu einer Erwiderung an, aber Carsten hob die Hand und fügte hinzu: „Und es wird auch nicht aufgehoben werden.“
„Aber ..“, rief sie.
„Das Thema ist beendet.“

Ob Corinna dennoch weiter darauf beharrt hätte, weiß ich nicht, denn in diesem Moment begann Kim aus nicht unmittelbar ersichtlichem Grund zu weinen.
Fiona sprang auf, und zog ihn auf ihren Schoss. Sie murmelte beruhigend auf ihn ein, während Corinna verärgert zischte: „Hat es die Windel schon wieder voll?“
Fiona hob Kim ein Stück empor, und schnupperte an seinem Gesäß. „Nein“, antwortete sie, „ich glaube nicht. Aber Kim wird Durst haben.“
„Es hat doch gerade erst einen Becher Tee gekriegt.“
„Kim mag diesen Tee nicht. Wir haben doch noch Apfelsaft.“
„Der Apfelsaft ist ganz schlecht für die Zähne“, erwiderte Corinna unfreundlich, dann fiel ihr ein, dass sie Zuhörer hatte, und sie meinte: „Na, gut. Aber verdünn‘ den Saft mit Wasser.“
Fiona beeilte sich, dem nachzukommen. Schließlich nuckelte Kim an einer Schnabeltasse herum.

Ohne sonst erwähnenswerte Vorkommnisse brachen die Gäste etwa eine halbe Stunde später wieder auf, so dass wir endlich wieder unsere Ruhe hatten und unsere ungestörte Zweisamkeit genießen konnten.

Über Anne Nühm (breakpoint)

Die Programmierschlampe.
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29 Antworten zu Die Enttarnung des Schrödingergeschlechts //2176

  1. keloph schreibt:

    ich kenne das leide zur genüge. die erste rutsche mit eigenen ist inzwischen weiter weg. enkel sind nicht in sicht – derzeit. 🙂

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  2. noch1glaswein schreibt:

    Putziges Pärchen und die eine entschieden dominant 😉

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  3. MartinTriker schreibt:

    Die Frage ist also immer noch nicht geklärt, ob Junge oder Mädchen.

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  4. Athropos schreibt:

    Haben die es wirklich geschafft, über den ganzen Besuch Personalpronomen für das Kind zu vermeiden?
    Mir tun Kinder ja leid, die für die Egotrips ihrer „Eltern“ herhalten müssen

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    • Sie haben das Kind in der Tat nur als „Kim“ oder „es“ referenziert (immerhin keine Silben wie „hen“ oder „xer“ als Pronomina verwendet).

      Vor Jahren hatte ich mal auf Molly’s Blog (gibt es leider nicht mehr), einen Text gelesen, bei dem eine Mutter auch als „es“ über ihr Kind sprach. Kam mir damals äußerst befremdlich und respektlos vor. Aber tja .. offenbar gibt es das tatsächlich noch öfter.

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  5. Leser schreibt:

    Ich frage mich, wie Fiona das aushält mit dieser schrecklichen Person. Es klingt zumindest ganz danach, als wäre sie auch nicht so ganz zufrieden damit, sich so dermaßen herumkommandieren zu lassen. Bleibt zu hoffen, dass sie es nicht später bereut, in dieser „Beziehung“ so lange festgesteckt zu haben.

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  6. blindfoldedwoman schreibt:

    Ich weiss nicht, wie Carsten so zurückhaltend sein kann. Und wieso habt ihr nicht einfach gefragt? Ist doch schließlich sein Enkel.

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  7. Plietsche Jung schreibt:

    Kinder und Boote – am liebsten, wenn der Nachbar sie hat.

    Kim ist süß. Autos sind viel toller als ne Puppe. 😊

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