Rechnen nach Zahlen //1989

Auch Softwareentwickler müssen hin und wieder kleine Rechnungen durchführen. Es ergab sich eine Aufgabenstellung, die mit der Geometrie unserer Geräte zu tun hat. Konkreter braucht ihr das nicht zu wissen.
Ich machte gerade meine übliche Runde bei meinen Mannen, um mich nach dem Status ihrer Arbeit und ihren Fortschritten zu erkundigen (auch wenn ich die Details meistens untergeordneten Projektleitern überlasse).
So kam ich also auch bei dem Mitarbeiter vorbei, der gerade mit o.g. Berechnung beschäftigt war, aber noch kein schlüssiges Endergebnis aufzuweisen hatte.
Also ließ ich mir seine Berechnungen zeigen.

Da glaubt man, schon vieles gesehen zu haben. Ich selbst schreibe kleinere Rechnungen gerne auf gebrauchte Briefumschläge. Als in meiner Jugend Schmierpapier knapp war, benutzte ich beim Altpapier die Zeitungsränder, um außenrum meine Rechnerei hinzuschreiben. Da wird der Rechengang schon mal unübersichtlich, weil man nicht kompakt und bündig untereinanderschreiben kann.
Der Mitarbeiter hatte die Rückseite alter, nicht mehr benötigter Ausdrucke benutzt. Soweit kein Problem und völlig in Ordnung.

Was mich so entsetzte, war, dass er die Rechnung ausschließlich mit Zahlenwerten durchführte. Da standen ellenlange Ziffernfolgen hintereinander, getrennt von Operatoren und Bruchstrichen. Wo möglich, hatte er zusammengefasst, auch mal Wurzeln gezogen oder Winkelfunktionen ausgewertet, was die Ziffernfolgen nur noch länger und unübersichtlicher machte. Auf diese Weise hatte er bereits fast zwei Seiten vollgeschrieben.
„Wieso nutzen Sie keine Formelzeichen?“, fragte ich ihn perplex. So ist das mit der Digitalisierung nicht zu verstehen.
„Das mache ich immer so“, antwortete er. Er ist sonst ein geschickter Programmierer, aber kein Akademiker.
„So kann man nicht rechnen“, erklärte ich, „das ist viel mehr Schreibaufwand, als nötig. Die Rechnung erscheint unnötig lang und kompliziert, wird völlig unübersichtlich. Die Fehleranfälligkeit ist wesentlich größer. Wie leicht passiert Ihnen ein Zahlendreher, oder Sie geben ein Zwischenergebnis falsch in den Taschenrechner ein, beziehungsweise lesen falsch ab. Und ungenau ist es auch, weil sich Rundungsfehler ungehemmt fortpflanzen können. Sie kennen das Konzept der Variablen doch vom Programmieren. Das hier ist nichts anderes. Die Eingangswerte setzt man erst ganz zum Schluss in die Formel ein, um das Endergebnis zu erhalten. Und wenn man das nächste Mal andere Eingangsparameter hat, lässt sich die Rechnung einfach wiederverwenden, ohne dass man die gesamte Rechnung noch mal mit anderen Zahlen extra durchrechnen muss.“

OK – beim Programmieren kommt es – je nach Problemstellung – durchaus vor, dass man Zwischenergebnisse ausdrücklich ausrechnet, um sie dann weiterzuverarbeiten, anstatt nur einen einzigen großen Ausdruck auszuwerten.
Aber hier war das Problem nicht so kompliziert, um erst Zwischenergebnisse berechnen zu müssen.
Also machte ich dann gemeinsam mit dem Mitarbeiter den Ansatz, ließ ihn dann die Aufgabe selbständig durchrechnen, und kontrollierte später noch sein Ergebnis.

Bei mir wären das drei oder vier Zeilen gewesen, weil ich – faul wie ich bin – einige Schritte nur im Kopf mache, statt sie extra hinzuschreiben (das hat mich übrigens mal Punktabzug bei einer Schulaufgabe gekostet, bei der wir Nebenrechnungen auf einen zusätzlichen Zettel schreiben sollten, der aber bei mir fast leer blieb, weil ich die paar Rechnungen lieber im Kopf gemacht hatte).
Bei meinem Mitarbeiter war die Ausführung etwa eine halbe Seite lang.
Wenn er darauf gekommen wäre, dass Sinus Quadrat plus Kosinus Quadrat desselben Arguments gleich 1 ist, wäre seine Rechnung makellos gewesen. So wies ich ihn noch darauf hin, dass man das Ergebnis auf diese Weise noch vereinfachen kann, lobte ansonsten seinen Rechenweg und ermunterte ihn, beim nächsten Mal gleich mit Buchstaben statt Zahlen vorzugehen.

Über Anne Nühm (breakpoint)

Die Programmierschlampe.
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19 Antworten zu Rechnen nach Zahlen //1989

  1. Plietsche Jung schreibt:

    Und das hat ihn jetzt motiviert?

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  2. transomat schreibt:

    Ich finde Deine burschikose Art unheimlich sexy 🙂

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  3. Christian schreibt:

    Liebe Anne, bitte verstehe folgendes nicht falsch, das ist überhaupt nicht böse gemeint: Ich lese nun seit bestimmt zwei Jahren mit, und Du bist mir bis heute ein Rätsel. Einige Blogger, auch die anonymen, mag ich nach einiger Zeit, oder mag Sie nicht. (Ich lese ja meistens mit, weil ich so an fremden Erfahrungen teilhaben kann, die ich selbst nie machen werde. Diese Erfahrungen bringen mich dann in meinem Weltbild weiter. Öffnen meinen Horizont….) Du bist für mich eine besondere Ausnahme. Es gibt Beiträge, da glaube ich, ich könnte mich stundenlang gut mit Dir unterhalten, andere danach möchte ich Dich gar nicht persönlich kennenlernen. Ich bin allerdings überzeugt, dass Du kein Fake bist. (Ich hatte eine Zeitlang die Theorie, dass da eine Anne ist, die schreibt mit einem einheitlichen Still aber ca drei Personen die Ideen zu den Geschichten beisteuern..) Ich überlege auch schon seit bestimmt sechs Monaten, ob ich Dir das überhaupt erzähle 😉 Aber da du ja überlegst irgendwann hier auszusteigen, wollte ich Dich das noch wissen lassen. Und warum melde ich mich hier? Das ist wieder ein Artikel, an dem ich mich reibe. Ich hätte mich nach deinem „Eingreifen“ auch den ganzen Tag mies gefühlt. Da wäre auch total egal gewesen, wie das mein Chef gemacht hätte. Und wenn ich an die verschiedenen Vorgesetzten denke (3 Frauen, 2 Männer) ne das hätte keiner so machen können, dass ich mich wohl gefühlt hätte.

    Gruß, Christian

    PS: Du erwähnst manchmal einen zweiten Blog. Falls du meinst, der könnte mir helfen, mein Rätsel zu lösen: magst Du mir eine Einladung schicken? Emailadresse ist gültig.

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    • Hallo Christian,

      nein, ich nehme dir das nicht übel. Ich weiß selbst, dass ich ein vielschichtiger Mensch bin, und habe auch etliche Kämpfe mit meinen eigenen inneren Widersprüchlichkeiten ausfechten müssen, um mit mir selbst ins Reine zu kommen.
      Es gibt Menschen, mit denen verstehe ich mich wunderbar, zu anderen finde ich überhaupt keinen Draht. Das ist nun mal so.

      Von anderen Leuten korrigiert zu werden, ist niemals schön. So weit klar.
      Ich habe aber mit meinen Mitarbeitern ein vertrauensvolles Verhältnis, und weiß i.A. durchaus, wie ich mit ihnen umgehen kann.
      Der Mitarbeiter war ohnehin kurz davor gewesen, um Rat und Hilfe zu bitten (vermutlich allerdings erst bei seinen Kollegen).
      Ich habe ihm Gelegenheit gegeben, seine eigenen Arbeitsabläufe zu verbessern. Schließlich hatte er ein Erfolgserlebnis, das ich auch gebührend würdigte.

      Schönen Tag und lg
      Anne

      PS: Einladung verschickt. Für den Zugriff ist allerdings ein WordPress-Account nötig.

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