Als ich in der alten Heimat lebte, war es für mich ganz selbstverständlich, mehrmals am Tag die Glocken zu hören.
Wir wohnten nur wenige hundert Meter von der Kirche entfernt (was zumindest den Vorteil hatte, dass für den Weg zur Kirche und wieder zurück nur wenig Zeit draufging). Die Kirchenglocken waren deshalb – unabhängig von der aktuellen Windrichtung – bei uns immer deutlich zu hören.
Vor jedem Gottesdienst läuteten die Glocken eine viertel und eine halbe Stunde vorher, und zum Beginn selbst. Während der Wandlung (also der Transsubstantiation von veganem Gebäck zu Menschenfleisch) gab es noch einmal Geläute (daheim wussten wir dann, dass die Kirchgänger in Kürze wieder heimkommen würden).
Wenn es läutete, ohne dass ein sonstiger Grund gegeben war, dann war das ein Zeichen dafür, dass jemand in der Gemeinde gestorben war. Sofort wurde dann in der Nachbarschaft herumgefragt, wen es wohl getroffen hatte.
Außer diesem anlassbezogenen Geläute meldete die Kirchenglocke viertelstündlich die Uhrzeit. Während mich das Läuten tagsüber generell nicht störte, sondern völlig egal war, fand ich diese nächtlichen Glockenschläge sogar äußerst praktisch.
Wenn ich nachts nicht schlafen konnte, brauchte ich nicht extra auf den Wecker zu schauen, um zu sehen, wie spät es ist, sondern ich musste nur das nächste Läutsignal abwarten und abzählen.
Da ich den Eindruck habe, dass das Wissen, aus dem Läutsignal auf die Uhrzeit zu schließen, inzwischen fast verloren gegangen ist, erläutere ich kurz den Algorithmus:
Zunächst kommen bis zu vier Schläge. Jeder Schlag steht für eine Viertelstunde, bzw. 15 Minuten. Ein Schlag bedeutet also Viertel, zwei Halb, und drei Dreiviertel. Vier Schläge bezeichnen eine volle Stunde. Nur in diesem Fall geht das Läutsignal noch weiter. Der Klang der Glocke ändert sich (bei uns daheim war er dumpfer), und es folgen eine Anzahl von Schlägen zwischen 1 und 12, die der vollen Stunde entsprechen. Post meridiem (also zwischen Mittag und Mitternacht) kann man im Geiste noch 12 addieren, wenn man das 24-Stundensystem vorzieht.
Nur am Karsamstag schwiegen die Glocken. Dann war nämlich Grabesruhe.
gibts Leut, die nicht wissen, wie die Kirchglocken läuten?
Selbst in der Schweiz läuten sie genauso. An meinem Wohnort höre ich sie auch. An meinem Arbeitsort läuten die Glocken, die auf unserem Firmengebäude sind, nur um 8, 11, 15 und 20 Uhr – und wenn jemand gestorben ist.
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Oh, ja. Gerade jüngere Stadtmenschen haben oft keinerlei Vorstellung, was das Glockensignal mit der Uhrzeit zu tun hat.
8 – 11 – 15 – 20 .. was ist denn das für eine seltsame Folge? Gibt es für diese merkwürdigen Zeiten Gründe? Und warum läutet es um 5 und 6 Uhr nicht?
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In dem Haus war früher die Dorfschule. Kirche gibt es hier nicht bei nur 250 Einwohnern.
Warum es genau um die Zeiten läutet, weiss ich auch nicht. Wohl noch aus früheren Zeiten für die Bauern zur zeitlichen Orientierung.
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8 Uhr könnte Schulbeginn gewesen sein. Ansonsten.. ❓
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11 Uhr: kochen anfangen
15 Uhr: Kuuuuuchen!
18 Uhr: Feierabend
Als es noch eine Schule war, hat es wahrscheinlich noch öfter geläutet…
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Ich meine, in Hamburg bimmeln nur noch die Hauptkirchen, denn es gibt so viele Kirchen, dass es schlicht eine Zumutung wäre, Und zum Glück schreit hier noch niemand vom Turm.
Die meisten Stadtmenschen sind nicht mehr aktiv gläubig, auch wenn sie Kirchensteuer bezahlen. Somit geht die Kenntnis über die Klingelmuster mehr oder weniger verloren.
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Ich dachte, die Klingelmuster wären Allgemeinbildung. Mit Gläubigkeit hat das für mich nichts zu tun. Allerdings bin ich neben einer Kirche aufgewachsen und kenn es gar nicht anders.
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Die Kirche hat doch erst in den letzten 100 Jahren an Einfluss verloren. Davor war sie wie eine zweite Regierung bezogen auf Werte und Einfluss.
Der Pfarrer/Pastor war der Mann der Gemeinde.
Heute klingelt nur noch das Smartphone und die Menschen verdummen immer weiter.
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Das war bis vor 30 Jahren noch so, da wo ich herkomme … zum Glück ist es nimmer so.
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Ach, Glück ist relativ.
ich glaube nicht, dass die Menschen früher unzufriedener als heute waren. Sie hatten Arbeits, Essen, ein Dach und Orientierung.
Und wer weiß, was die nachfolgenden Generationen über uns sagen werden.
Niemand weiß, ob wir auf einem guten Weg sind. Wir glauben es, wie beweisen es uns selbst und letztendlich urteilt die Zeit darüber.
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Naja … ich fand den Einfluss der Kirche und den Kampf mit meinen Eltern nur wegen meines Berufswunsches schon nicht so toll.
Den aktuellen Weg seh ich allerdings auch etwas kritisch.
Schau mer mal ..
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Kampf mit deinen Eltern? Wollten die nicht, dass du Ingenieurin wirst?
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Die waren strikt dagegen, weshalb ich auch keinerlei Unterstützung (auch keine finanzielle) bekommen hab. Deswegen habe ich komplett neben dem Studium gearbeitet und sehr sparsam gelebt.
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Warum wollten sie das den nicht?
Meine Eltern waren stolz darauf, dass ich studieren konnte, und haben dafür auch so manches Opfer gebracht.
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Wenn ich Lehramt gemacht hätte, wären sie stolz gewesen und hätten das auch unterstützt. Aber Maschinenbau war ihrer Meinung nach nichts für Mädchen. Sie dachten wohl auch, ich würde es eh nicht schaffen.
Aber ich sollte ja schon nicht aufs Gymnasium (als Klassenbeste!), weil… Mädchen… 🙄
Ich hab mir einfach ein Übertrittszeugnis organisiert und dann haben sie sich geniert, mich nicht zu schicken. Wegen den Leuten… 🙄
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Oh je! 🙄
Meine Eltern waren da immerhin rückständig genug, war nicht zu wissen, welche Fächer jetzt „für Mädchen“ geeignet sind, oder nicht.
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Ich hab meinen Kopf ja trotzdem durchgesetzt 😉
Heute sind sie übrigens stolz und wissen von nichts mehr 😎
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Die einzelnen Kirchen könnten sich ja abwechseln.
Aber ich vermisse das Läuten eigentlich nicht.
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Und dann noch Morgen- und Abendläuten: Sommers um 6 und 18 Uhr, winters um 7 und 17 Uhr.
Wir brauchten als Kinder selten eine Uhr.
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In Zeiten ohne Armbanduhr und Handy war es früher (ganz früher) wichtig, den arbeitenden Menschen auf dem Feld durch das Läuten eine Zeitorientierung zu geben.
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Das ist ein ganz wichtiger Punkt.
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Das gab es bei uns, glaube ich, nicht. Ich kenne aber eine Klosterkirche, die auch zu zusätzlichen Zeiten läutet.
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Man muß wohl Dorfkind sein, um das zu kennen, denke ich auch oft. Mir ist das jedesfalls auch noch geläufig.
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Im ländlichen Bereich ist es teilweise noch so. Nachts läuten die Glocken aber immer seltener, um die Leute nicht zu stören.
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Isses schon so weit??? O tempora, o mores 😐
Wundern würde es mich mittlerweile nicht mehr: selbst die Funktion einer Türklingel ist ja teilweise nicht mehr bekannt: der junge, moderne Stadtmensch steht vor der Tür und wartet, bis ihn jemand rumstehen sieht und wenn es zu lange dauert, wird ne SMS geschrieben (oder WhatsApp), wie mir neulich berichtet wurde…. – da ist das Glockengeläut natürlich auch ne intellektuelle Herausforderung…:/
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Ja, durch Äpps u. dgl. gehen immer mehr Kulturtechniken verloren. Rechtschreibung, Kopfrechen, das Lesen einer Landkarte, ..
Und wer weiß heute noch, was z.B. eine Diskette ist?
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Wah ernsthaft, Disketten sind unbekannt? Oh weh.
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Geht noch besser: einem Azubi vor 2 oder 3 Jahren (! – fürs Archiv: nach 2015!!!) konnte ich Win3.1 als den heißen modernen Shayce verkaufen: 128bit System, innovativer Programm-Manager im neuen Design, Nachfolger von NTFS mit den Vorteilen von FAT128 und Beta-Tester werden von Microsoft gerade gesucht… ich hab dem ein paar Tage später einen Stapel Disketten mit der Bemerkung „Verrate es keinem“ und externen asbach uraltem Disketten-Laufwerk überreicht.
Es hat sage und schreibe zwei Tage gedauert, bis er gemerkt hat, daß da nix stimmt und zusammenpaßt (Ursache war tatsächlich der RS232 als neuartiger Anschluß, den auch der Computer-Dealer im Hipster-Style nicht kannte – irgendwann kam er an einen „alten Sack“, der ihn aufgeklärt hat 😛 ).
Kinners, Azubis vergackeieren macht Spaaaaaß! (und die Gewichte für die Wasserwaage holen sind alt – Computer ZehnPunktDreiundzwölzig ist in 😉 )
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LOL.
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Tja, was nützt auch ein Datenträgerr, der vielleicht gerade mal 1.44 MB Kapazität hat.
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Interessant, hier werden sowohl Disketten als auch Religion thematisiert. Da fällt mir der passende Witz ein (auf englisch, weil nicht übersetzbar): „What do floppy disks and Jesus have in common? – They both died to become an icon of saving.“ 😉
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Der war gut!
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