Würde die Würde durch die Hürde zur Bürde? //1800

„Benjamin hat mir nahegelegt, meine Dissertation so bald wie möglich abzuschießen„, erklärte ich Carsten am Abend.
„Warum das?“
„Er hofft wohl, seine Ehe mit Teresa zu retten, wenn er mit mir nichts mehr zu tun hat.“

„Was hältst du davon?“
„Ich bin noch nicht fertig. Ich brauche noch einige Zeit.“
„Wie ist deine Zeitprognose?“
„Bevor der Berliner Flughafen fertig wird.“
Carsten schaute genervt, so dass ich hinzufügte: „So etwa 2020 hätte ich gedacht.“
„Und Benjamin meint, du könntest es auch schon viel früher schaffen?“
„Er will meine Betreuung einfach hinter sich haben. Aber ich sehe für mich keinen Vorteil, wenn ich mich jetzt beeile und mich hineinknie.“

„Es wäre schon gut, wenn du früher damit fertig wirst.“
„Inwiefern? Außerdem ginge das auf Kosten der Note.“
„Nach der Note wird dich nie jemand fragen. Aber du hättest den Kopf wieder frei für anderes, und der Doktortitel würde uns auch geschäftlich ein positives Image bringen.“
„Den Titel werde ich eh nicht führen.“
„Weshalb nicht?“, hakte er nach, „damit kannst du gegenüber manchen Geschäftspartnern ganz anders und prononcierter auftreten.“

„Ich bin dir wohl mittlerweile zu alt, um mit mir als Trophäenweibchen anzugeben. Jetzt muss es die ‚Frau Doktor‘ sein“, erwiderte ich zugegebenerweise unsachlich. Aber ich hatte den Eindruck, dass es ihm nur um den Titel und den damit verbundenen Status geht. Und vielleicht hatte ihn mein Kontakt zu Benjamin ja doch gestört, auch wenn er ihn geduldet hatte.
„Du weißt genau, dass ich das nicht gemeint habe“, antwortete er scharf, bevor er mich kurz, aber heftig xoxote, und dabei die tägliche Routineüberprüfung durchführte, ob mein Gesäß noch schön fest und knackig ist, „ernsthaft – was spricht dagegen, deine Promotion schnellstmöglich zu beenden?“
„Ich hab‘ auch anderes zu tun! Deine Firma lastet mich größtenteils aus. Außerdem habe ich gerade erst einen Entwicklungsauftrag angenommen, mit dem ich beschäftigt bin.“

„Was die Firma betrifft, so ist derzeit nichts wirklich akut, seit du die App-Spezifikation fertig hast. Deine Mitarbeiter sind eingespielt und arbeiten größtenteils selbständig. Du bist ja nicht aus der Welt, wenn es mal Probleme gibt, zu deren Lösung du beitragen musst. Für Führungsaufgaben hast du Vertreter, die auch mal einige Wochen ohne dich auskommen. Wichtige Termine, die du wahrnehmen solltest, hast du nur wenige. Die wirst du schon schaffen. Was ich damit sagen will, ist, dass die Firma schon einige Wochen überleben wird, wenn du sie in der Priorität zurückstellst. Wenn du nur die wenigen wirklich wichtigen und dringenden Aufgaben wahrnimmst, geht das eine Zeitlang. Wenn du also pausieren willst, so mach‘ das jetzt, solange deine Aufgaben sich noch in Grenzen halten.
Was den Entwicklungsauftrag angeht, werden die Kunden auch ein paar Wochen länger warten. Gib ihnen Bescheid, dass sich die Auslieferung verzögert. Notfalls gewährst du ihnen einen Preisnachlass. Soviel ich weiß, hast du ja keinen endgültigen Liefertermin vereinbart. Schlimmstenfalls ziehen sie den Auftrag zurück, aber du hast ja noch nicht viel Zeit in dieses Projekt gesteckt, so dass du den Ausfall verschmerzen könntest.“
Ich glaube nicht, dass die Kunden den Auftrag zurückziehen würden, auch wenn sie natürlich nicht erfreut sein werden, dass sie jetzt noch länger auf die Software warten müssen. Schließlich hatte ich den Auftrag nur angenommen unter der Bedingung, dass es nicht dringlich ist. Immerhin haben sie ja die bestehende Software bereits und sind nicht auf ein schnelles Update angewiesen.
Aber dass ich anscheinend so leicht in der Firma zu ersetzen bin, wo ich mich doch in den letzten Jahren so sehr engagiert und eingesetzt habe, trifft mich doch.

„Ich verstehe nicht, warum du es plötzlich so eilig hast, dass ich fertig werde. Bisher schien dir die ganze Sache ziemlich egal zu sein.“
„Mach‘ was du willst! Ich wollte dir nur erklären, dass du dabei keine Rücksicht auf die Firma zu nehmen brauchst. Zwei oder drei Monate sind ein absehbarer Zeitraum, in dem du sie zurückstellen kannst. Danach erwarte ich allerdings, dass du dich mit voller Kraft wieder der Firma widmest.“

Hm .. bis Anfang/Mitte Mai könnte ich – wenn ich mich größtenteils auf die Dissertation konzentriere – auf einen annehmbaren (wenn auch nicht optimalen) Stand kommen. Vielleicht sollte ich es einfach versuchen. Falls mir etwas dazwischen kommt oder nicht so läuft wie geplant, kann ich den Endspurt immer noch abbrechen und wieder langsamer machen. Ein perfektes Ergebnis würde mir eh nichts nützen, und falls mir die Arbeit bis etwa Christi Himmelfahrt doch nicht gut genug erscheint, kann ich die Abgabe immer noch aufschieben.
Ich werde heute Abend wohl Benjamin Bescheid geben, dass ich versuchen werde, im Mai abzugeben, aber dies nicht sicher versprechen kann.

Über Anne Nühm (breakpoint)

Die Programmierschlampe.
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20 Antworten zu Würde die Würde durch die Hürde zur Bürde? //1800

  1. keloph schreibt:

    der doktor wird bestandteil des namens nach deutschem recht, aber das weisst du ja sowieso schon. und was der benjamin da ausbreitet ist glaube ich etwas halbseiden 🙂

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  2. Der Maskierte schreibt:

    Schlechte Strategie. Ich würde den Abgabetermin auf frühestens Anfang Juli legen. Wenn du es früher schaffst, dann ist es für Benjamin super und er kann sich als strahlender Held verkaufen. Wenn nicht musst du ihn nicht vertrösten.

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    • Das wäre überlegenswert.
      Aber ich selbst kann nicht noch den ganzen Juni ranhängen, und mit Volldampf daran arbeiten.
      Wenn ich im Laufe des Mais nicht fertig werde (vielleicht bis auf minimale Abschlussarbeiten), dann muss ich wieder zum alten Trott zurückkehren, auch wenn sich die Abgabe dadurch weit in die Zukunft verschiebt.

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  3. Plietsche Jung schreibt:

    Titel sind etwas für Österreicher.
    Es gibt so viele Flachpfeifen, die einen Dr. tragen und trotzdem im Beruf und Leben scheitern.

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