Elfhunderteinundsiebzig

Das unwürdige Ende eines Onlinekontakts hängt mir noch nach. Unter anderem gehen mir noch Vorwürfe und Unterstellungen nach, die X. teilweise noch nach Kontaktabbruch gemacht hat. Er hatte ja abstrakte ethische Werte, die bei der konkreten Umsetzung gegenüber seinen Mitmenschen allerdings auf der Strecke blieben.
Ich bilde mir zwar ein, mich selbst recht gut annelysieren zu können, aber jedes Selbstbild ist nun mal subjektiv geprägt. So ist manchmal auch eine unabhängige Meinung wünschenswert. Diese muss natürlich von jemandem kommen, der mich hinreichend gut kennt. Carsten dürfte zwar schon voreingenommen sein, erschien mir aber als einzige Option, dazu befragt zu werden. Mir ist ja bewusst, dass ihn solche Gespräche nerven, aber ein oder zwei Mal im Jahr erträgt er das schon. Ich musste nur einen passenden Zeitpunkt finden, wenn er nicht gestresst, sondern entspannt ist. Da er nach dem Sex in einem Objektivitätsminimum ist, schien es mir sinnvoller, das Gespräch bei einem Spaziergang (auch wenn das Wetter nicht so toll war) durchzuführen, was ich im folgenden etwas gekürzt wiedergebe.

„Liebster, ich würde dir gerne ein paar persönliche Fragen über mich stellen. Ist das jetzt OK?“, begann ich die Unterhaltung.
„Sicher doch“, grummelte er nicht gerade begeistert, „worum geht’s denn?“
„Hast du den Eindruck, ich sei intolerant und verständnislos?“
„Du? Überhaupt nicht. Dazu bist du viel zu indifferent. Wie kommst du denn auf die Idee?“
„Ach .. man liest ja so einiges ..“, antwortete ich möglichst unbestimmt, und fügte schnell hinzu, um nicht vom eigentlichen Thema abzukommen: „Meinst du, mein Denken sei ‚im System eingebettet‘?“
„In welchem System denn?“
„Weiß auch nicht. Irgendein System halt.“
„Samtpfötchen, ich weiß gerade nicht, worauf du hinauswillst. Aber spontan fällt mir niemand ein, der unabhängiger und unbeeinflusster von Konventionen denkt als du.“
Ich drückte seine Hand etwas fester, während ich der Hinterlassenschaft mindestens eines Pferdes auf dem Weg auswich, und dachte voller Vorfreude daran, dass ich später die Option zu reiten wahrnehmen würde.

„Kannst du dir Gründe vorstellen, dich von mir zu trennen?“, setzte ich die Befragung fort.
„Das weißt du doch, Süße“, scherzte er, „wenn du fett wirst, schmeiß‘ ich dich raus.“
Das ist so ein Running Gag zwischen uns, aber in Gedanken an verschiedene übergewichtige Verwandte mit Stoppelkinn, erwiderte ich: „Ich kann nicht ausschließen, dass sich mein Stoffwechsel in den Wechseljahren verändert.“
„Mit einem anderen Stoffwechsel werde ich vermutlich klarkommen. Aber verliere deinen Humor und deinen Scharfsinn nicht!“

Ich nahm das Thema wieder auf: „Aber wenn ich andere Ansichten vertreten würde als du aushalten kannst – meinst du, dies könnte Anlass für eine Trennung geben?“
„Was ist nur heute los mit dir?“, wunderte er sich, dann beantwortete er meine Frage: „Normalerweise hast du doch sehr vernünftige Ansichten. Solange du weiterhin so rational und pragmatisch bleibst, und nicht anfängst, mit irgendwelchen weltfremden Moralvorstellungen oder naiven Weltverbesserungsparolen zu argumentieren, kann ich mir nicht vorstellen, dass mir etwas so sehr gegen den Strich ginge, dass ich nicht mehr mit dir zusammensein will.“

Das bestätigte mein Bild, das ich von mir selbst und auch von ihm habe. Dann sprach er weiter: „Ich habe mich übrigens kürzlich mit Thomas über dich unterhalten.“
„So?“
„Er meinte, du bist eine tolle Frau, und ich ein Glückspilz, dich zu haben. Ich bestätigte, dass ich das genauso sehe. Dann fragte er mich, ob du im Bett auch so heiß bist, wie du aussiehst.“
„Was hast du ihm geantwortet?“
Er grinste: „Dass du das nicht nur im Bett bist.“

Er blieb stehen, und nahm mich in seine Arme. Zu schade, dass das Wetter noch lange nicht Outdoor-geeignet ist.
„Und wie ist das mit dir?“, drehte er den Spieß um, „siehst du irgendeine Veranlassung, mich zu verlassen?“
„Nö. Ich komme mit deinen Macken gut zurecht.“
„Ich? Hab Macken?“, fragte er in gespielten Entsetzen, als wir weitergingen, „das ist nicht dein Ernst. Welche sollen das denn sein?“
„Deine Einstellung zu Geld, zu Arbeit, dass du manchmal schroff und ruppig zu mir bist, ..“, zählte ich auf, doch er unterbrach mich: „Und das stört dich nicht?“
„Manchmal bin ich schon sauer auf dich. Aber das hält meist nicht lange an. Und Sex wirkt wunderbar katalytisch. Umgekehrt mag ich an dir – unter anderem – dass ich auch mal zickig sein kann, oder mich daneben benehme, ohne dass du mir das gleich übel nimmst.“
„Um mich loszuwerden, müsstest du dich viel mehr anstrengen“, bestätigte er.
„Ach, ich halte es schon noch mit dir aus.“

Es ist so wohltuend, nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen zu müssen, weil man sich im Grunde gut versteht, und im Zweifel davon ausgeht, dass der andere einem wohlgesonnen ist, die Aussagen nicht negativ auslegt und gegen einen verwendet (nicht so wie zum Schluss mit X., der mich – wenn ich die letzte Kommunikation noch einmal Revue passieren lasse – offenbar missverstehen wollte, und alle meine Worte maximal negativ interpretierte, so dass ich ihm nur noch im schlechten Licht erschien. Ich glaube mittlerweile nicht mehr, dass es irgendetwas geändert hätte, wenn ich anders reagiert hätte. Dann hätte er eben andere Vorwände gefunden, mich abzulehnen. Vielleicht wäre es für ihn gerade noch tolerabel gewesen, wenn ich all meinen von seinen Vorstellungen abweichenden Überzeugungen abgeschworen hätte. Vielleicht auch nicht. Dazu jedenfalls war und bin ich nicht bereit, und es ist jetzt auch egal. Das Kommunikationsprotokoll war nicht mehr synchron. Es ist häufig schwierig, mit Menschen umzugehen, die nur ein binäres, XOR-dominiertes Weltbild haben, also streng, kompromisslos und überlappungsfrei zwischen Gut und Böse unterscheiden, und nicht verstehen, dass dazwischen ein weites Kontinuum liegt, das noch dazu von vielen anderen Parametern und Variablen abhängt).

„.. es sei denn“, fuhr ich fort, „du öffnest wieder die Käseverpackungen so, dass man sie nicht mehr sauber verschließen kann, und der Käse dann austrocknet.“
„Dann kommt man aber viel besser an den Käse ran, und meist wird er ja eh zügig ganz aufgegessen.“
„Manchmal aber eben auch nicht, und ich mag keinen halb vertrockneten Käse. Was ist denn so schwierig daran, den Deckel nicht ganz abzureißen?“
„Wenn du den angetrockneten Käse nicht magst, dann gib ihn eben mir. Mich stört das nicht.“

So und ähnlich ging das für den Rest des Heimwegs weiter, aber ich glaube, das muss ich nicht im Einzelnen hier niederschreiben. Trotz unterschiedlicher Meinungen war das Gespräch konstruktiv (auch wenn wir keine Lösung des Käsedilemmas fanden) und von gegenseitigem Respekt geprägt.

Über Anne Nühm (breakpoint)

Die Programmierschlampe.
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17 Antworten zu Elfhunderteinundsiebzig

  1. Molly L. schreibt:

    „Da er nach dem Sex in einem Objektivitätsminimum ist“ – Herrlich! 😀
    Ja, solche Gespräche führe ich mit Herrn L. auch ab und an. Allerdings laufen die für mich nicht immer so glimpflich ab: Herr L. ist die einzige Person, auf deren Einschätzung ich wirklich IMMER höre. Und wenn es dann – was schon 2, 3 mal passiert ist, leider – vorkommt, dass ich etwas partout nicht einsehe, Herr L. aber sagt: „Molly-Maus, da hast DU mist gebaut, das war ganz allein DEIN Fehler“, dann … vergesse ich alles und denke nochmal in Ruhe nach, handele entsprechend, bitte um Verzeihung, sehe meinen Fehelr ein. Denn auf Herr L.s Urteil vertraue ich, wie auf niemandes sonst.
    Es ist schön, so jemanden zu haben, da hast Du vollkommen Recht, da können wir uns glücklilch schätzen. Solche Gespräche führe ich mit Herrn L. auch ab und zu. Und genau wie Carsten ist er nicht allzu erpicht darauf, 😀
    Es tut mir leid, dass Dir diese Sache noch so nachhängt. 😦
    Zeigt aber auch, dass Du über weiterführende Emotionen verfüght und (wichtg!) Selbstreflexion betreibst. Ich hoffe sehr, dass Du bald mit der Situation für Dich ins Reine kommst!

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  2. George schreibt:

    Dich zeichnet aus, daß du dich selbst hinterfragst. Wahrscheinlich hinterfragst du ständig alles, so wie ich auch. Ich empfinde das oft als belastend, aber qenigstens wird aus mir kein doofer Mitläufer.

    Ich komme mit fast allen Menschen klar, und kann andere Standpunkte akzeptieren. Das klassische „agree to disagree“. Ich kenne Parteilose, und sonst alles von Grün bis CSU.
    Wichtig sind mir fundierte Meinungen, klare Argumente und vor allem Kritikfähigkeit und Prinzipientreue.
    Derzeit merke ich, wie einige eher linke Freunde mehr ins progressive rutschen.
    Begleiterscheinungen dieses Prozesses sind Beliebigkeit in der Argumentation (ich sage nur Oktoberfest!) und Humorlosigkeit.

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    • Ja, es kann manchmal ganz schön lästig sein, wenn man sich ständig vor sich selbst rechtfertigen muss, anstatt sich grundsätzlich toll zu finden.

      Andere Meinungen bei anderen zu akzeptieren (ohne sie jedoch übernehmen zu müssen) ist für mich überhaupt kein Problem. Ich sehe auch hier vielfältige Kommentare mit abweichenden Meinungen als Bereicherung. Wer vernünftig und respektvoll seine Perspektive darstellen kann, ist stets willkommen. Wer das nicht kann, disqualifiziert sich selbst.

      Problematisch ist der Umgang mit Menschen, die ihre vermeintlichen Gefühle über Argumente und Fakten stellen, bzw. idiologisch verblendete Fanatiker.

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      • Der Maskierte schreibt:

        Naja, sich selbst toll zu finden und dennoch zu hinterfragen, löst doch keinen Widerspruch aus. Im Gegenteil. Wer begriffen hast, dass die einzige Konstante im Leben die Veränderung ist und man mit Selbsthinterfragung sich nur verbessern kann, der weiß doch von sich aus im Grunde, dass er ein toller, weil sich stets verbessernder, Mensch ist.

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        • Jain.
          Ich meinte diejenigen Menschen, die sich zwar selbstherrlich und ohne jeglichen Zweifel toll finden, es aber – wenn man mal strengere Maßstäbe als ihre eigenen anlegt – überhaupt nicht sind.
          Menschen, die spontan und impulsiv handeln, ohne sich im geringsten über eventuelle Folgen Gedanken zu machen.

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  3. Danny schreibt:

    “Hast du den Eindruck, ich sei intolerant und verständnislos?”
    “Du? Überhaupt nicht. Dazu bist du viel zu indifferent. Wie kommst du denn auf die Idee?”

    Die Antwort wär für mich eher eine Beleidigung.
    Ebenso System-loses Denken.

    Klar ist es schön, wenn jemand seine Position nach gründlicher Prüfung auch mal ändert. Aber der Vorwurf das nicht zu tun kann nie ein inhaltliches Argument sein.

    Früher hab ich mich auch mal verteidigt wenn Leute mir Sexismus vorgeworfen haben.
    Heute steh ich dazu 🙂

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    • Nö. Das „indifferent“ war als „neutral und unparteiisch“ zu verstehen.
      „Unsystematisch“ wäre negativ, aber so bedeutete die Äußerung nur, nicht zwischen Scheuklappen und Ressentiments gefangen zu sein.
      So hab‘ ich das zumindest aufgefasst, und bin mir sehr sicher, dass es so gemeint war.

      Was an Sexismus grundschätzlich schlecht sein soll, erschließt sich mir auch nicht. Schließlich gibt es zwei komplementäre Geschlechter.
      Und ein wohldosierter Sexismus bringt erst Würze ins Leben.

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  4. Engywuck schreibt:

    Käse kauft man am Stück und nicht in einer Verpackung! Natürlich vorzugsweise von der Käsetheke und nicht aus dem Kühlregal, dann ist er wenigstens frisch und wird nicht in so einer „ich verschimmle hier drin wenn du mich nicht schnell aufisst“-Verpackung geliefert.
    Also wirklich… keine Esskultur die Jugend von heute… 😉

    (Wobei ich zugegebenermaßen ohnehin die mindestens ein halbes Jahr gereiften Bergkäse am liebsten habe. Da braucht man dann auch viel weniger von als von einem nach nichts schmeckenden jungen Gouda oder Emmentaler. Bei *dem* Preis allerdings auch besser so :-))

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