Tausendachtundvierzig

Anfang der 80er Jahre. Irgendwo in einem bedeutungslosen Provinzstädtchen.

Annele geht mit ihrer Mama einkaufen. Diese trifft eine Bekannte. Beide begrüßen sich mit Händedruck. Annele gibt auch eine Hand.

Verwandte aus einer fernen Stadt kommen zu Besuch. Alle geben sich die Hand zur Begrüßung. Annele streckt auch eine Hand hin.
„Moment, Annele!“, meint die Mama, „ist das die Hand, mit der du sonst isst?“
Annele schaut verständnislos. Sie isst doch mit dem Mund.
Die Mama fragt weiter: „Mit welcher Hand malst du denn? Mit welcher nimmst du den Stift?“
Annele versteht nicht. Sie schaut ihre beiden Hände an. Die sind doch gleich. Kann man beide benutzen. Sie überlegt weiter, aber findet keine Lösung.
Annele’s Welt ist symmetrisch.

Als Annele zum Arzt muss, streckt der ihr die Hand zur Begrüßung hin. Annele reicht auch eine Hand.

Annele ist mit den Eltern in der Kreisstadt. Der Papa begegnet einem Arbeitskollegen, und begrüßt ihn. Auch Annele gibt die Hand.
„Annele, halt!“, ruft die Mama, „ist das die Hand, mit der du sonst den Stift nimmst?“
Annele schaut verständnislos. Welcher Stift?
Die Mama versucht zu erklären: „Mit welcher Hand isst du denn? Mit welcher hältst du den Löffel?“
Annele versteht nicht. Sie schaut ihre beiden Hände an. Die sind doch gleich. Kann man beide benutzen. Sie überlegt weiter, aber findet keine Lösung.
Annele’s Welt ist symmetrisch.

Annele hat sich einen Daumen verletzt. Der hat sich entzündet, und auch nachdem er wieder verheilt ist, sieht man noch jahrelang einen Unterschied, wenn man genau hinschaut.
Wenn Annele nach rechts oder links gefragt wird, so legt sie beide Daumen nebeneinander, und vergleicht sie. So kann sie beide Seiten unterscheiden.

Inzwischen geht Annele in die Schule und lernt lesen.
Irgendwann trifft sie die Erkenntnis, dass die Leserichtung von links nach rechts verläuft. Von diesem Zeitpunkt an braucht sie nicht mehr ihre Daumen zur Unterscheidung, sondern stellt sich einfach vor, in welcher Richtung sie liest.
Die Symmetrie ist gebrochen.

Über Anne Nühm (breakpoint)

Die Programmierschlampe.
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37 Antworten zu Tausendachtundvierzig

  1. verbalkanone schreibt:

    Irgendwie eine sehr traurige Geschichte … Letztendlich hat sie dann doch noch ein „gutes Ende“ gefunden, oder? Und Annele hat ihren Weg gemacht, oder? 😉

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  2. El Sinistro schreibt:

    Du kannst also froh sein, dass Deutsch nicht als
    .driw nebeirhcseg tfirhcsnehcruF
    https://de.wikipedia.org/wiki/Bustrophedon

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    • Wie beim Stricken.
      Das wäre wohl nicht hilfreich gewesen.

      Allerdings habe ich irgendwann meinen Algorithmus verbessert, und orientiere mich inzwischen an der Abszissenrichtung.

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      • Engywuck schreibt:

        Beim Stricken wird doch eigentlich immer das Strickstück gedreht beim Wenden, oder? Jedenfalls mache ich das so.
        Außerdem bewegt man quasi das Strickstück unter den „festsehenden“ Nadeln. Fast so wie früher das Magnetband unter dem Schreib-/Lesekopf 🙂 Dabei wird das „fertige“ nach links bewegt (jedenfalls wenn ich stricke…).
        Interessanterweise ist es beim Häkeln umgekehrt, das wird das fertige nach rechts bewegt.

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        • Gewendet wird, sofern man nicht rundherum strickt/häkelt (wie etwa für ein Deckchen oder einen Schlauch).

          Bei mir ist sowohl beim Stricken als auch beim Häkeln die (aktive) Nadel (also die, mit der ich in die Masche bzw. das Loch steche) in der rechten Hand, so dass sich das fertige Teil nach rechts bewegt.
          So habe ich das damals gelernt. Sicherlich lässt sich das auch spiegelverkehrt durchführen, aber da fehlt mir die Praxis.

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  3. Plietsche Jung schreibt:

    Ist eben das andere Links !

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  4. Molly L. schreibt:

    Wirklich sehr schön geschrieben, liebe Anne! 🙂

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  5. Leser schreibt:

    Interessant. Du bist also ein „echter“ Ambidexter?
    Zu der Aussage: „Ich habe eigentlich nur dann Probleme damit, wenn ich etwas aufschrauben will, und es funktioniert nicht auf Anhieb. Dann ist die Chance fifty-fifty.“ hätte ich die Frage:
    Kann es mal mit rechts, mal mit links sein, dass es nicht auf Anhieb funktioniert? Oder hat sich da eine Gewöhnung eingestellt?
    Ich glaube, bei allen Kindern ist die Welt zunächst erst mal symmetrisch. Aber irgendwann benutzen sie unbewusst die eine oder die andere Hand häufiger, daran erkennt man dann, ob sie rechts- oder linkshänder sind.
    Wobei bis in die 80er hinein „Linkshändertum“ noch als was schlechtes galt. Ich erinnere mich an meinen Bruder, der ist Linkshänder (Du bist altersmäßig ungefähr zwischen mir und ihm), und dass mein Vater ihn früher – bevor er akzeptieren konnte, dass es inzwischen als akzeptiert galt, Linkshänder zu sein – immer darauf hingewiesen hat, die rechte Hand zu nehmen. Ihm wurde in den ersten Kindheitsjahren das Linkshänder sein geradezu abtrainiert, bevor dann akzeptiert wurde, dass es das halt gibt.
    Wirkliche Ambidexter kenne ich bisher gar nicht. Außer bei Menschen mit Multipler Persönlichkeitsstörung, da gibt es „Personen“, die rechts-, und andere die linkshänder sind. Aber das ist ja wieder was komplett anderes, die können sich den einen Körper dann auch teilen und z.B. mit links ein Diktat schreiben, während sie mit rechts ein Bild malen (und eine dritte Persönlichkeit liest währenddessen noch einen davon unabhängigen Text und kann sich daran erinnern)…

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    • Darüber könnte man sich natürlich länger auslassen, aber ich muss mich einigermaßen kurz fassen.

      Ich nehme an, dass auch der „typische“ Rechtshänder nicht 100-prozentig auf rechts festgelegt ist, sondern – sagen wir mal – nur zu ca. 80%.

      Da die meisten Menschen aber rechts bevorzugen, ist dies inzwischen der Default: Man gibt sich die rechte Hand (eine Konvention muss es geben, sonst wären die Daumen im Weg), Schrauben haben ein Rechtsgewinde, der Tisch wird mit Gabeln rechts, Messer und Löffelgriffe rechts gedeckt, Scheren sind für den Gebrauch mit der rechten Hand optimiert, etc.

      Wenn jetzt jemand, der z.B. Links mit 60% bevorzugt, aufwächst, dann wird er beim Essen mit der rechten Hand nach dem Löffel greifen, weil der Löffel günstiger für die rechte Hand platziert ist.
      Er gewöhnt sich halt nach und nach daran, vieles mit Rechts zu machen: Schreiben, Mouse bedienen, .. alles reine Übungssache (ich kann z.B. auch ganz gut mit Links schreiben – allerdings nur in Spiegelschrift, und es fehlt mir schon einige Übung).

      Kann es mal mit rechts, mal mit links sein, dass es nicht auf Anhieb funktioniert? Oder hat sich da eine Gewöhnung eingestellt?

      Normalerweise machen meine Hände das automatisch. Ich nutze für gewöhnlich die, die näher dran ist.
      Wenn aber z.B. die Schraube (oder das Schraubglas oder der Wasserhahn) so fest angezogen ist, dass ich sie nicht aufbekomme, kriege ich Zweifel, ob ich richtig herumdrehe. Dann ist wildes Herumprobieren angesagt, und Glücksache, ob ich es noch schaffe.

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      • Engywuck schreibt:

        Mein jüngster Neffe (4) dürfte so ein Fall von „60% links“ sein. Anfangs konnte man keinen Unterschied feststellen, inzwischen nach längerer Beobachtung „eher links“, egal ob Malen oder Holzeisenbahn schieben. Der Kinderarzt hat gemeint „wenn er eher Linkshänder ist sollten Sie ihn darauf festlegen“ – also Stift beim malen in die linke Hand geben etc.

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        • Wenn die Bevorzugung von links nur schwach ist, wäre es vielleicht besser für ihn, sich an rechts zu gewöhnen.
          Unsere Gesellschaft ist nun mal für Rechtshänder optimiert (Schreibrichtung, Korkenzieher, Scheren, ..). Wenn er ohne zwingenden Grund eher links benutzt, wird er sich i.A. schwerer tun.

          Das gilt natürlich nicht, wenn seine Bevorzugung der linken Hand wirklich ausgeprägt ist. Da sollte man nicht umerziehen, aber bei nur 60% ist ja kein so großer Unterschied da.

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          • Leser schreibt:

            Ich finde, alles was in dem Bereich 60-40 liegt, sollte man auf Beidhändigkeit trainieren. Das Trainieren auf rechts geschieht ja schließlich ohnehin schon dadurch, wie die meisten Gegenstände (Scheren, Schraubgewinde etc) in unserer Gesellschaft ausgelegt sind. Ansonsten ist Ambidextrismus (falls man das so nennt) doch eher ein Vorteil, man kann die Extremitäten des Körpers so universeller nutzen.
            Wobei ich eine (symmetrische) Mouse z.B. relativ problemlos auch mit Links bedienen kann. Wenn allerdings die Tasten im „Linkshändermodus“ vertauscht sind, ist es für mich eher gewöhnungsbedürftig.

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  6. Blublubla schreibt:

    Ich hab auch keine eindeutig bevorzugte Seite, bin aber z.b. beim Schreiben (weil’s auch wischtechnisch unpraktisch ist) mit links nicht trainiert. Seit ich aber mal Probleme mit der Hand hatte und die PC-Maus mit links bedienen musste, hab ich das nimmer umgestellt. Komplexe Bewegungsmuster, die ich rechts einstudiert hab (Rückschlagsportarten) kann ich auf links jedoch nicht übertragen. Irgendwelche feinmotorischen Fummeleien ;P gehen mit linksteilweise besser. Verwinkelte Schrauben richtig zu öffnen ist aber auch eher Glückssache… (und dann hat sie vlt. gar ein Linkgewinde)
    Jede Hand hat somit ihre Aufgabe 😉

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    • Das kann ich gut nachvollziehen.
      Auch wenn man ursprünglich keine Seite vorzieht, entwickeln sich im Laufe der Zeit unterschiedliche Spezialisierungen.
      Schwere Gegenstände trage ich z.B. lieber auf der linken Seite.

      Stricken oder Häkeln dagegen kann ich nur in der üblichen Richtung. Wenn man solche komplizierten Bewegungsmuster erst einmal verinnerlicht hat, ist es schwierig, das noch umzustellen.
      Da sind beide Hände auch mit unterschiedlichen Bewegungen beteiligt, so dass man das nicht einfach spiegeln kann wie etwa beim Schreiben.

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      • ednong schreibt:

        Ja,
        ich denke auch, es ist eher eine Art Gewöhnung. Und dann entwickelt sich halt die Kraft in dem einen Arm stärker, weil bspw. die schweren Sachen immer auf der gleichen Seite getragen werden oder Schrauben meist so liegen, dass sie sich mit rechts besser anziehen lassen als mit links.
        Und beim Schreiben ist es – zumindest mit Tinte – sicher mit rechts einfacher.

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        • oder Schrauben meist so liegen, dass sie sich mit rechts besser anziehen lassen als mit links.

          Möbel oder Geräte werden eben gerade so designt, dass es rechts einfacher geht.

          Und beim Schreiben ist es – zumindest mit Tinte – sicher mit rechts einfacher.

          Tja, das Screiben mit der rechten Hand harmonisiert recht gut mit der Schreibrichtung von links nach rechts, da man ansonsten das gerade Geschriebene mit der Hand verdeckt und evtll. auch verwischt.
          Wobei ich mich schon frage, wieso Hebräisch dann von rechts nach links geschrieben wird.

          Übrigens ist beim Autofahren mein Kriterium: „Links ist die Richtung, bei der man beim Abbiegen die andere Straßenseite überqueren muss.“

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          • Blublubla schreibt:

            „Übrigens ist beim Autofahren mein Kriterium: “Links ist die Richtung, bei der man beim Abbiegen die andere Straßenseite überqueren muss.”“ Hehe – ich empfehle hierzu mit Jetlag in einer australischen Großstadt ein Auto zu mieten 😛 Aber auch daran gewöhnt man sich

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  7. lawgunsandfreedom schreibt:

    Das Problem hatte ich auch (Problem für die Anderen – nicht für mich). Dann wurde ich als Rechtshänder erzogen. Gelegentlich vergesse ich es und dann gibt’s seltsame Blicke, oder ich wundere mich wieso ein Handgriff plötzlich umständlicher ist als sonst. Die Originalcodierung ist nach 50 Jahren immer noch stärker, als das angelernte.

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    • Ja, geht mir ähnlich.

      Es erstaunt mich etwas, dass hier doch schon einige Kommentare erwähnt haben, dass sie beide Hände vergleichbar nutzen.
      Normalerweise ist ja alles auf Rechtshänder ausgerichtet, Linkshänder sind auch noch deutlich präsent, aber Beidhänder sind eher ein Randphänomen, dass sonst kaum zur Kenntnis genommen wird.

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