Neunhundertachtunddreißig

Gerne hätte ich es auch meinen Mitarbeitern ermöglicht, die Sonnenfinsternis länger zu beobachten. Aber die mussten ja arbeiten.
Also fragte ich vorsichtig beim Chef an, ob es OK sei, wenn ich mit ihnen während der Arbeitszeit raus ins Freie ginge, um möglichst viel von der Verfinsterung mitzukriegen.
Seine Antwort war, dass er nichts dagegen hätte, wenn sie innerhalb ihrer Pausenzeiten hinausgingen, um das Himmelsspektakel zu beobachten.
Ich reagierte vielleicht ein wenig zu heftig (was ich auf PMS schiebe), und nannte ihn einen Sklaventreiber.
„Das kannst du sehen, wie du willst“, antwortete er kühl, „aber du kannst dir selbst ausrechnen, was es mich kosten würde, wenn meine gesamte Belegschaft, eine halbe Stunde oder noch länger unproduktiv ist, und ich muss sie trotzdem bezahlen.“

Gegen viertel elf plärrte ohrenbetäubend die Sirene los.
Feuer!
Alles stürzte ins Freie. Ich hängte mir meine Handtasche um, stöpselte schnell mein Notebook aus, schnappte es mit der einen Hand, die Tasche mit der anderen, irgendwo noch meine Jacke, und dann nichts wie raus!
Ein großer Teil der Belegschaft war ebenfalls schon auf dem Parkplatz versammelt. Nirgendwo war Rauch, oder sonst etwas ungewöhnliches zu sehen.
Ich hielt Ausschau nach einem vertrauten Gesicht, und sah schließlich den Chef neben einigen seiner Angestellten.
Mein Notebook hatte ich inzwischen in der Tasche verstaut, und die Jacke angezogen, und lief in seine Richtung.
„Was ist denn los?“, fragte ich, als ich ihn erreichte, „brennt es irgendwo?“
„Nur die Sonne“, erwiderte er grinsend, „und die wird jetzt immer mehr vom Mond verdeckt.“
Ach, ist er nicht großartig! Ist er nicht der Allerbeste! Hat er die Feueralarmübung extra so gelegt, dass seine Belegschaft die Sonnenfinsternis miterleben kann.
Ich stellte meine Notebooktasche auf den Boden ab, und tastete nach seiner Hand. Er erwiderte den Händedruck und lächelte mich an. Am liebsten hätte ich ihm einen Kuss gegeben. Aber vor versammelter Mannschaft wäre ihm das unangenehm gewesen. Also beschränkte ich mich darauf zurückzulächeln.
(Ich verzichtete sagar auf eine oberlehrerhafte Belehrung, dass die Fusionsvorgänge auf der Sonne eigentlich nichts mit Verbrennung im Sinne von Oxidation zu tun hätten, obwohl es mir auf der Zunge lag.)
Allmählich füllte sich der freie Platz. Ich sah meine Softies, die Werkstudenten, die IT-ler, und alle anderen Angestellten und Arbeiter.
Carsten ergriff das Wort, bedankte sich bei allen, dass die Feueralarmübung so glatt und flott abgelaufen sei, und forderte alle auf, die Gelegenheit zu nutzen, und das seltene Himmelsereignis zu beobachten.
Er hatte irgendwoher sogar spezielle Folien organisiert, die er verteilen ließ, um Augenschäden zu verhindern.

Gegen 11 war dann der Großteil der Belegschaft wieder zurück an die Arbeit gegangen. Wir gingen auch wieder hinein, denn Nonstop kann man eh nicht zuschauen.
Ich ging eine halbe Stunde später nochmal kurz raus, um zu schauen, wie ich es bereits vor 10 auch schon getan hatte.

Jetzt habe ich endlich eine Sonnenfinsternis direkt beobachten können. 1999 und 1993 (?) hatte das Wetter nicht mitgespielt.

Über Anne Nühm (breakpoint)

Die Programmierschlampe.
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19 Antworten zu Neunhundertachtunddreißig

  1. aliasnimue schreibt:

    Oooooooooooooooch…ich mag das ja gerne, wenn frau Mann mal so richtig anhimmeln kann. 🙂

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  2. Uschi-DWT schreibt:

    Naja… manchmal hat auch ein Geschäftsmann ein Herz für seine Angestellten :yes:

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  3. Leser schreibt:

    Schööön! So schnell kann sich die Sichtweise von „Sklaventreiber“ auf „Wow, Toll!“ ändern :-)))

    Naja, ich muss im Allgemeinen sagen, dass mich eine Sonnenfinsternis, wenn es nicht eine komplette Verdeckung (Tappfuhler: Verdreckung – WTF?) gibt, nicht mehr vom Hocker reißt. Wenn man durch die Schutzfolie schaut, dann sieht’s letztlich so ähnlich aus, wie eine Mondsichel, nur halt eben etwas anders von der Drehung her. Die einzigen wirklich spektakulären Sonnenfinsternisse sind die, die man im Kernschatten miterlebt. Und dann ist es auch nur für gut 2 Minuten spektakulär. Wenn man die Schutzfolie weglassen kann, und trotzdem nur noch eine dunkle Scheibe mit einem hellen Ring drum herum sieht. Und dann, wenn der Kernschatten weiter über einen hinweg wandert, zu sehen, wie extrem schnell der doch über die Landschaft hinwegrast…das hatte schon was surreales, damals vor ca.15,5 Jahren.

    Aber so ne lahme Teilbedeckung, meh, die ist doch nichts weiter, als wie so ein leicht diesiger Wolkentag…

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    • breakpoint schreibt:

      Ihm war schon klar, dass ich das mit dem Sklaventreiber nicht so ganz ernst gemeint habe. :.

      Tja, eine Sonnenfensternis vom Kernschatten aus beobachten, wäre mir auch lieber gewesen. Aber die Bedeckung hier war halt nur bei ca. 70%. Immerhin war der Himmel klar, so dass sie sich beobachten ließ. Damals 1999 hatte ich vor lauter Wolken gar nichts gesehen.

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      • Leser schreibt:

        Ich glaube, 2026 oder 2028 gibt es wieder eine mit ziemlich hoher Bedeckung (92 oder 96%, wenn ich mich recht erinnere), d.h. da dürfte der Kernschatten nicht allzu weit weg sein, und man könnte dort hinreisen, wo er sich befindet. Aber die Geometrie hinter dem Schattenwurf verstehe ich nicht mehr, seit ich mir das animierte GIF auf der Wikipedia-Seite zur diesjährigen SoFi angeschaut habe, was die NASA oder ESA erstellt hat, um den Schattenverlauf zu zeigen. Von daher kann es auch sein, dass ich mich täusche, und der Kernschatten auch dann wieder unerreichbar ist.

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        • breakpoint schreibt:

          So weit plane ich noch nicht voraus.
          Wenn es sich ergibt, dass ich eine Gelegenheit gut wahrnehmen kann, werde ich das sicher tun.

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        • engywuck schreibt:

          Du meintest vermutlich 12. August 2026 über Nordspanien bis nach Malle komplett, aber kurz vor Einbruch der Nacht. Bei uns dann wohl partiell mit hoher maximaler Bedeckung (ca. 90% am Bodensee), aber halt in der Dämmerung. Wegen der Urlaubszeit kann man wenigstens toll Sonnenfinsternis-Grillen.

          2. August 2027 über Gibraltar und Nordafrika. Bei uns dadurch ebenfalls partiell, bis 60% Bedeckung im Südwesten. Wer Ägypten im Sommer toll findet: um Luxor dürfte die Beobachtbarkeit ideal sein. Rein statistisch 🙂

          26. Januar 2028, ringförmig, beginnt im Pazifik, zieht über das nördliche Südamerika und endet – man ahnt es – mit Einbruch der Nacht in Spanien. Hierzulande vermutlich nichtmal partiell sichtbar, da ohnehin Nacht – evtl. Frankreich und westlichstes Deutschland.

          1. Januar 2030 – mal wieder – ringförmig, in Mitteleuropa – mal wieder – nur partiell. Diesmal über Malta und Griechenland sichtbar, wandert von Nordafrika einmal quer über Asien bis nach Japan. Diesmal zur Abwechslung aber bei uns nicht mit Einbruch der Abenddämmerung sondern frühmorgens. Wird halt einfach später so wirklich hell. Etwa so wie am 4. Januar 2011 (hat *die* jemand mitbekommen? :-))

          Davor gibts aber auch noch ein paar partielle, z.B. 10. Juni 2021 – mit grandiosen 13% Bedeckung in Berlin. Oder 25. Oktober 2022 mit immerhin 20-30% Bedeckung im deutschsprachigen Raum. Oder 29.3.2025: 9-25% Bedeckung. Allesamt also enorme Gefahren für die Energieversorgung Deutschlands!

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  4. engywuck schreibt:

    hups, 1. JUNI 2030. Was fangen die Monate auch alle mit J an?

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    • breakpoint schreibt:

      Nicht alle. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Monatsname eines beliebigen Datums mit J beginnt, ist gut 25%.
      Danach kommt M, dicht gefolgt von A, schließlich O|D, S|N, und letztendlich F.
      Dies gilt für alle mir bekannten Sprachen.

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  5. Pingback: Elfhundertdreiundzwanzig | breakpoint

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