Neunhundertvierundzwanzig

Machen wir doch mal ein Gedankenspielchen.
Stellt euch vor, ihr bekommt einen Stapel mit Fotos, die ihr sortieren sollt.
Die Aufgabenstellung sieht vor, dass die Bilder Menschen aus Italien, Deutschland und Schweden zeigen, die dem jeweiligen Land zugeordnet werden sollen. Außer den Fotos sind außerdem auch noch ein paar Daten wie Körperlänge oder Schuhgröße verfügbar.
Ihr beginnt also, und sortiert zuerst die eindeutigen Fälle. Schwarze Haare -> Italien, hellblond -> Schweden, mitteleuropabraun -> Deutschland.
Dann sind aber auch ein paar Bilder dabei, die nicht so einfach zuordenbar sind. Ist das jetzt ein kleiner Deutscher oder ein großer Italiener? Ist das eine dunkle Schwedin oder eine helle Deutsche?
Ihr legt euch schließlich auf ein Ergebnis fest.
Die Auswertung ergibt, dass ihr meistens richtig gelegen seid. Denn der mittlere Schwede/Deutsche/Italiener entspricht eben dem statistischen Stereotyp.
Es gibt jedoch auch einige Fehler in den Fällen, in denen ihr euch nicht sicher wart. Und es gibt sogar einige Ausreißer, bei Bildern die ihr für eindeutig hieltet. Tja, auch Italiener können schwedisch aussehen, wenn auch nur sehr selten.
Was hat das jetzt zu bedeuten?
Das ist Statistik. Man muss immer die gesamte Verteilung mit Mittelwert und Standardabweichung bzw. Varianz berücksichtigen. Manche Leute liegen halt mit bestimmten Merkmalen weitab vom Mittelwert ihrer zugeordneten Gruppe, vielleicht sogar näher am Mittelwert (oder darüber hinaus) einer anderen Gruppe. Es gibt immer einen mehr oder weniger großen Überlappungsbereich.

Wenn ich im Ausland war, wurde ich häufig für eine Schwedin (in gewisser Weise ginge ich sogar als Südschwedin durch, denn während der Schwedenkriege war meine Heimatstadt eine Zeitlang schwedisch – eine der wenigen Dinge, die ich vom Heimatkundeunterricht in der Grundschule behalten habe) oder Finnin gehalten (einmal auch für eine Französin aufgrund meiner „lasziven und non-chalanten Ausstrahlung“). Dafür bin ich zwar eigentlich zu dunkel, aber offenbar noch innerhalb eines plausiblen Bereichs. Ich gehe also davon aus, dass ich optisch dem Stereotyp einer Schwedin stärker entspreche, als dem einer Deutschen.

Solche statistischen Häufigkeitsverteilungen gelten natürlich auch noch für andere Merkmale als etwa die Haarfarbe. Und auch andere Gruppierungen als Nationalität lassen sich mit bestimmten Verteilungen beschreiben.
So gibt es beispielsweise einige Merkmale, in denen ich „männlicher“ bin als der Durchschnittsmann. Insbesondere das mathematische Verständnis (bzw. die ganze Nerd-Affinität), die Körpergröße (was mir i.A. hilft, den Ãœberblick zu behalten, andererseits aber auch ein Handikap sein kann) und die Libido (eine meiner früheren Tröllinnen, die inzwischen wohl endgültig zum Orcus runtergegangen ist, bezeichnete mich einmal als „personifizierte Notgeilheit“) wären da zu nennen.
Nun ja, solange ich noch Sopran singe, und mir kein Bart wächst, brauche ich mir wohl keine Sorgen zu machen.
Unangenehmer ist es, dass ich so verfroren bin, und im Winter leicht kalte Füße bekomme.
Dagegen beträgt das Längenverhältnis zwischen meinem rechten Zeige- und Ringfinger fast 1.04 (mehr Dezimalstellen gibt die Messgenauigkeit nicht her), was meine Hypothese, ich sei einer größeren Dosis pränatalem Testosterons ausgesetzt gewesen, widerlegt.

Es existiert auch keine Boole’sche skalare Methode IsNerd().
Erst neulich meinte ein Freund zu mir, für einen Nerd sei er eigentlich zu „normal“, die „Normalen“ würden ihn dagegen als Nerd sehen.
Dieses Dilemma kenne ich nur zu gut. Nerdigkeit entsteht aus der gewichteten Superposition unterschiedlicher Eigenschaften.
Ein hoher Kaffeekonsum mag z.B. typisch für viele Nerds sein, ist aber keine notwendige Bedingung. Auch ist die Korrelation zur „typischen“ Nerdbekleidung viel geringer als gemeinhin angenommen.
Auch Nerdigkeit ist also ein multidimensionales Feld mit bestimmten Verteilungsmustern.
Den letzten Absatz zu verstehen, ist allerdings schon nahe dran an einer hinreichenden Bedingung.Hand vor PapierHand vor Bildschirm

Über Anne Nühm (breakpoint)

Die Programmierschlampe.
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19 Antworten zu Neunhundertvierundzwanzig

  1. schaum schreibt:

    ich liebe statistik, aber sie ist ein gefährliches instrument in der hand unwissender….oder kann allzu leicht manipuliert werden.

    es schäumt meinespezialität

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  2. Manchmal komme ich mir vor, als hätte „Weird Al“ ein Lied über mich geschrieben …

    Nur die Frage „Kirk oder Picard“ aus dem Video ist ganz einfach zu beantworten: Picard. 😉

    *Flame on!*

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  3. Uschi-DWT schreibt:

    Ich halte sowieso nichts von Verallgemeinerungen, obwohl ich ein Freund von Statistiken bin.

    Also auch wieder etwas, dass sich im Prinzip widerspricht und damit nicht statistisch erfassbar ist 😀

    Wie langweilig wäre die Welt wenn wirklich alles genau kategorisierbar wäre, denke ich zumindest.

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    • breakpoint schreibt:

      Man muss halt wissen, inwieweit man sich auf statistische Aussagen verlassen kann.
      Auf Einzelfälle oder Individuum sind sie explizit nicht anwendbar, sondern nur auf Ensembles mit sehr vielen Elementen.

      Vielen Leuten sind wohl die Grenzen der Aussagekraft von Statistiken einfach nicht bewusst.

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  4. gelöschter User schreibt:

    Hallo Bruchpünktchen! 🙂

    Ich war heute Morgen auf der Suche nach einem guten Blog-Anbieter, um einen Blog zu starten. Beim Umschauen auf diversen Blog-Hoster-Plattformen habe ich mir dann jeweils ein, zwei Blogs angesehen, und auf blog.de warst du zufällig unter meinen Stichproben (dieser Eintrag hier wurde gerade unter „neue Beiträge“ angezeigt).

    Mir haben deine Beiträge extrem viel Spaß gemacht, und das Ergebnis war schlussendlich, dass ich jetzt deinen *gesamten* Blog seit 2011 gelesen habe. In den Nymphen-Blog habe ich auch mal reingeschaut, aber als bekennender Hollywood-Romantiker hat mir die Seifenoper deines Lebens mehr Freude bereitet. 😉

    Wie du siehst, habe ich mich auch hier registriert und ich hoffe, ich schaffe es tatsächlich, so regelmäßig zu schreiben wie du. Aber auch wenn nicht – ich werde dich weiterhin lesen. Danke für diesen tollen Blog! 🙂

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  5. DerFreund schreibt:

    Wobei ich sagen muss, die Nicht-Nerds sehen das irgendwie verbissener, einen zum Nerd abzustempeln, als die Nerds einen zum Nicht-Nerd erklären.
    Bei letzteren ist es ein harmloses Gefrotzel („Wie, Du trinkst kein Club-Mate? Du kannst keiner von uns sein!“), da wird dann gemeinsam darüber gelacht und man ist in der Runde deswegen nicht weniger akzeptiert.

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    • breakpoint schreibt:

      Für die Unterscheidung Nerd oder Nicht-Nerd reicht eben ein einziges Bit nicht aus.

      In meinem (Nerd-)Umfeld ist Club-Mate kaum vertreten, da trinken praktische alle Kaffee. Aber mein Opa hat früher abends immer fermentierten Mate-Tee getrunken. Der war aber kein Nerd.

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      • idgie13 schreibt:

        Vermutlich geh ich ziemlich sicher als Nerd durch – wobei ich manche ganz un-nerdige Eigenschaften habe. Ich seh mich als pragmatischer Nerd ;D

        Was ist Club-Mate?

        Ich bin ein astreiner CCC Coffee-to-Code-Converter. Abends auch gern ein BBC Beer-to-Bytes-Converter.

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  6. aliasnimue schreibt:

    Also, ich hab den letzten Absatz mühelos verstanden. Bin aber dennoch kein Nerd, was Deine Schlußfolgerungen bestätigt. 🙂

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