Siebenhundertfünfundfünfzig

Irgendwie seltsam, dass man sich nicht beliebig an seine Kindheit zurückerinnern kann.
Ich habe mal versucht, meine allerersten Erinnerungen herauszufischen, aber das sind reine Gedankenfetzen, ohne irgendeinen Kontext.

So sehe ich mich im Sportwagen, ohne zu wissen, wer ihn schiebt. Da sind Bahnschranken und ein Zug fährt ein. Das kann also gar nicht bei uns am Ort gewesen sein. Oder vermische ich da etwas?
Dann sehe ich mich an der Hand meiner Mutter über die Straße beim Kindergarten laufen. Eigentlich bin ich doch noch zu klein für Kindergarten?

Überhaupt der Kindergarten .. ich erinnere mich, dass die Toilettensitze so ekelig waren, dass ich mich nicht überwinden konnte, dort auf’s Klo zu gehen. Da gab es dann wohl auch ein oder zwei Mal ein Malheur.
Ein traumatisches Erlebnis hatte ich im katholischen Kindergarten. Auf einer Veranstaltung musste ich mit einem Jungen tanzen, der – obwohl ein paar Monate älter – fast einen Kopf kleiner war als ich, nur weil die Erzieherinnen das so „süß“ fanden. Dieses Erlebnis habe ich bis heute nicht richtig verwunden.

Ich erinnere mich an einen Spielplatz, wo ich schaukelte, und wo ich mich mit den Kniekehlen an irgendeinen Baumast kopfüber hing. Da muss ich aber wohl schon etwas älter gewesen sein.
Als kleines Kind hatte ich ständig aufgeschlagene Knie (zumindest kommt es mir so im Rückblick vor).
Ich konnte es nicht leiden, wenn ich schmutzige Hände hatte. Egal, ob es Sand, Schokolade oder sonst etwas war, ich stand dann mit abgespreizten Armen da, und wartete (manchmal weinend) bis mir meine Mutter die Hände wieder sauber machte, bevor ich irgendetwas anderes anfassen konnte.

Eine Tante hatte mir aus einem alten Kleid einer verstorbenen Verwandten ein Sommerkleidchen genäht. Das war so ein luftiger, angenehmer Stoff, und ich trug das Kleid sehr gerne, bis es mir im nächsten Jahr leider nicht mehr passte.
Ich hatte einen Teddybären, den ich überall mit hin nahm. Irgendwann war der Stoff seiner Tatzen abgenutzt, so dass meine Mutter anderen Stoff darüber nähte. Mein Vater machte sich irgendwann einen Spaß daraus, den Teddy zu verstecken, und ich fand ihn an unerwarteten Orten wieder. Auch in der Mülltonne, worüber ich sehr weinte, denn der Bär war völlig verdreckt.
Als meine Lieblingspuppe einen Finger verlor, war ich untröstlich, spielte von da an aber nicht mehr mit ihr, weil sie ja nicht mehr vollständig war.
Überhaupt war ich mit meinen Spielsachen und anderen Dingen immer sehr vorsichtig. Ich glaube nicht, dass es viele Kinder gibt, die weniger kaputt gemacht haben als ich.

Ich hätte so gerne Locken gehabt, aber meine Haare waren völlig glatt. Also flocht meine Mutter meine nassen Haare manchmal zu Zöpfen. Nach dem Trocknen löste sie die Zöpfe wieder auf. So hatte ich wenigstens gewellte Haare.
Als Kind war ich dunkelblond, dabei hätte ich lieber schwarze Haare gehabt. Inzwischen bin ich brünett – naja, das typische, unauffällige mitteleuropabraun halt.

Ich erinnere mich, dass ich im Sommer durch fast schulterhohes Gras lief. Das gefiel mir. Aber ich kenne diese Wiese. Das Gras muss mir damals nur so hoch erschienen sein, weil ich so klein war. Das geht normalerweise kaum höher als bis zu den Knien.
Dann erinnere ich mich an Kälte im Winter. Und dieser halbverharschte Schnee, durch den ich durchstapfen musste. Wie sehr ich dabei fror, und wie sehr ich den Schnee verabscheute.

Ich sehe mich, wie ich Histogramme mit Legosteinen lege, oder Perlen sortiere, und dann kommt meine Schwester angekrabbelt und schmeißt alles durcheinander.

Ich erinnere mich noch ziemlich genau – da war ich vier – und ich konnte bis Tausend zählen. Zumindest in dem Sinne, dass ich eine beliebige, gegebene, ganze Zahl zwischen 0 und 1000 hätte um 1 inkrementieren können. Das hat mir aber niemand geglaubt. Die Nachbarsmädchen (2 bis 4 Jahre älter als ich) wollten, dass ich ihnen das vorzähle. Das war mir aber viel zu doof, weil es zu lange gedauert hätte. Aber das kapierten die nicht.
Ein andermal hatten die Nachbarsmädchen einen „Club“ gegründet. Natürlich wollte ich da auch mitmachen. Aber sie sagten, das könne ich erst, wenn ich in zwei Jahren so alt sei wie sie. Da ihnen offenbar nicht klar war, dass sie selbst auch in zwei Jahren wieder zwei Jahre älter sein würden als jetzt, und die Altersdifferenz weiter konstant bestehen bleiben würde, waren mir die nach dieser Aussage zu doof, und ich legte keinen Wert mehr darauf, ihrem „Club“ beizutreten, der sich übrigens schon bald wieder von selbst auflöste.

Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, dann wohnten in unserer Nachbarschaft damals gar keine Jungen – zumindest keine in ähnlichem Alter. Die Jungen in der Schule fand ich blöd, aber da habe ich wohl nur unreflektiert das nachgeplappert, was mir die anderen Mädchen vorgesagt haben. Ich musste erst studieren, um eines besseren belehrt zu werden.

Über Anne Nühm (breakpoint)

Die Programmierschlampe.
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15 Antworten zu Siebenhundertfünfundfünfzig

  1. sweetsurrender schreibt:

    Ich weiß nur von meiner Mutter, dass ich schon lesen konnte, als ich in die Schule kam. Hatte ich mir selbst beigebracht. Leider hab ich so gar keine Kindheitserinnerung. Manchmal so ganz schwache Fetzen, die kann ich aber nicht richtig greifen.

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    • breakpoint schreibt:

      Nee, Lesen habe ich erst in der Schule gelernt.
      Meine Eltern hatten eher Befürchtungen, ich könnte das „anders“ 🙄 lernen als in der Schule, und haben es nicht unterstützt.
      Aber mir war das nicht wichtig. Ich habe stattdessen lieber gerechnet.
      Außerdem ist es ja auch schön, sich manchmal vorlesen zu lassen (damals, jetzt mag ich es nicht mehr).

      Mit den Erinnerungen ist das schon so eine Sache ..

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  2. gammler67 schreibt:

    ich versuche das auch immer wieder mal.
    vieles fällt mir dann auch wieder ein,es hilft wenn ich durch das haus meiner großeltern „gehe“,nur so als beispiel.
    bei vielem bin ich mir nicht sicher ob die erinnerungen von alten fotos kommen,die ich kenne.
    aber es ist ein sehr schönes spiel…

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    • breakpoint schreibt:

      Ja, manchmal erinnert man sich dann auch in ganz anderem Zusammenhang wieder ein ein bestimmtes Geschehnis.

      Bei manchen Erinnerungen bin ich mir auch gar nicht sicher, ob das damals tatsächlich ich war, oder ich es nur z.B. im Fernsehen gesehen habe.
      Ab 8 oder 10 Jahren scheinen meine Erinnerungen aber dann konsistent und leichter abrufbar zu sein. Davor ist alles mehr oder weniger vernebelt.

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      • gammler67 schreibt:

        ich überlege schon seit ewigen zeiten,was meine ersten wirklich bewußten erinnerungen waren.
        aber ich glaube,das ist unmöglich…

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        • breakpoint schreibt:

          Bei mir war die erste bewusste Erinnerung vermutlich diese Szene im Sportwagen.
          Aber irgendwie sehe ich mich da auch nur „von außen“. Möglich, dass das in Wirklichkeit ein ganz anderes Kind war.
          Wer weiß ..

          Vielleicht gibt es bei dir irgendwann einen Auslöser, und dir fällt es ein, oder ein Déjà-Vu.

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  3. sigrun_beate schreibt:

    Dann muss man wohl nur warten, bis man alt genug ist, dann sollen ja viele Kindheitserinnerungen zurückkommen ;D

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  4. ednong schreibt:

    Ja, ja, die Erinnerungen. Du musstest also Jungen erst studieren, um deine Meinung über sie zu revidieren 😉

    Eigentlich zeigen Erinnerungen nur, dass man die Momente des Lebens genießen sollte – wer weiß, ob es sie noch einmal so gibt und ob man sich dieser immer bewußt ist.

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