Sechshundertdreiunddreißig

Neulich gab es ein Problem bei der Entwicklung eines neuen Produktes, so dass sowohl der CTO als auch ich zum Geschäftsführer zitiert wurden.
Es ging um ein mechanisches Bauteil, dessen Dimensionierung dazu führt, dass die Steuerungssoftware immer wieder abstürzt, nachdem die Ist-Daten eingelesen worden sind, oder das ganze Gerät gerät in Schwingungen.

Im Laufe der Diskussion ließ ich mich dann zu folgendem Satz hinreißen: „Wenn die zugrundeliegende Hardware nichts taugt, kann keine noch so auf Performance optimierte Software befriedigende Ergebnisse liefern.“
Dies brachte mir einen tadelnden Blick des Geschäftsführers ein, der daraufhin meinte: „Warum können wir denn nicht einfach die Software so anpassen, dass sie mit der Größe des Bauteils umgehen kann?“

Ich fasste noch mal zusammen: „Das Verhalten der gesamten Gruppe wird durch ein nicht-lineares partielles Differentialgleichungssystem beschrieben. Wir nutzen im Algorithmus eine Näherung, die – wie das Näherungen so an sich haben – nur in einem gewissen Bereich gültig ist. Die Abmessungen der anderen Bauteile haben sich aus diversen Gründen geändert, nur dieses eine Teil nicht. Dadurch kommen wir bei der benötigten Leistung in die Nähe einer Resonanz und kriegen fast chaotisches Verhalten. Das lässt sich mit der Software nicht abfangen.“
„Wäre eine Näherung höherer Ordnung vielleicht eine Lösung?“
„Da müssten wir noch etliche Glieder mit viel höheren Potenzen mitnehmen“, antwortete ich ebenso treffend wie genüsslich, „das macht der Prozessor nicht mit – in Echtzeit schon gar nicht.“

„Was wäre mit einem schnelleren Prozessor?“
„Dafür ist die Kühlung nicht ausgelegt“, warf der CTO ein, und auch ich schüttelte den Kopf, denn der Prozessor wird zwar heiß, schafft aber die Leistung nicht.
„Hm. Nur um auch keine Option zu übersehen: Gibt es vielleicht eine andere Approximation, die in diesem Bereich besser konvergiert?“
„Nein, da schlägt die Nicht-Linearität voll zu, und das System verhält sich chaotisch“, stellte ich noch mal klar.

„Welche Lösungsvorschläge gibt es dann?“
„Wenn das Teil 10 bis 20 Prozent länger wäre, wären wir genügend weit von der Singularität entfernt, und alles müsste wieder stabil laufen“, erwiderte ich.
Jetzt wandte der Geschäftsführer sich an den CTO: „Warum machen wir dieses Bauteil nicht größer, Ulrich?“
„Mit diesem Bauteil hatten wir schon vor Jahren Probleme“, entgegnete der CTO, „unser Zulieferer hat es damals nicht größer herstellen können, weil es Fertigungsschwierigkeiten gab.“
„Ich erinnere mich. OK. Ich werde schnellstmöglich mit dem Hersteller klären, ob mittlerweile eine Größenänderung möglich ist, oder einen anderen Hersteller suchen. Bis dahin wird die Entwicklung an dieser Stelle erst mal eingefroren.“

Der CTO und ich stimmten unisono zu. Wenn allerdings kein geeignet großes Teil verfügbar ist, dürfen wir das gesamte Projekt neu aufsetzen, und mehrere Mannjahre Entwicklungszeit sind für die Katz.
Size matters.

Über Anne Nühm (breakpoint)

Die Programmierschlampe.
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21 Antworten zu Sechshundertdreiunddreißig

  1. aliasnimue schreibt:

    Was für ein Tabubruch. Du kannst doch keinem Mann sagen, dass es tatsächlich (auch) auf die Größe ankommt. 😉

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  2. plietschejung schreibt:

    Bei so viel Intelligenz am Tisch frage ich mich, warum das Problem überhaupt auftrat.

    Eine blöde Diskussion, wenn man nur nach einem Verursacher sucht und jeder bestrebt ist, sein Schäfchen ins Trockene zu bringen.

    Team ist irgendwie anders.

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    • breakpoint schreibt:

      Trotz sorgfältiger Planung sind eben nicht alle Probleme bereits im Vorfeld zu erkennen.

      Diesem Gespräch ging eine längere Fehlersuche voraus, um überhaupt das zu kurze Bauteil als Ursache zu identifizieren.
      Danach gab es ein Pingpong zwischen dem CTO und mir, à la „Software ändern“ – „Bringt nichts. Länge ändern“ .. „Geht nicht. Software ändern.“ ..
      Ein Deadlock, der nur durch den Chef selbst durchbrochen werden konnte – und das hat es ja dann auch geschafft. 😀

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      • plietschejung schreibt:

        Verstehe ich.

        Nun ist es klarer. Wobei zwei gegen einen CTO ist ja auch unfair !! 🙂

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        • breakpoint schreibt:

          Von „zwei gegen einen“ war überhaupt nicht die Rede.
          Es war ein konstruktives, größtenteils sachliches Gespräch (das ich allerdings etwas kürzen und modifizieren musste, wodurch das vielleicht etwas verfälscht rüberkommt), im Laufe dessen wir das Problem klärten und eine Lösung suchten.

          Ich habe die SW-Entwicklung ja erst vor ein paar Monaten übernommen. Embedded war neu für mich. Ich musste mich also völlig neu einarbeiten, und kenne immer noch nicht alle Details.
          So waren mir die Gründe, warum sich dieses Bauteil nicht einfach durch ein größeres ersetzen lässt, gar nicht bekannt.

          Der CTO dagegen war ja längere Zeit wegen Krankheit ausgefallen. Vermutlich war ihm nicht wirklich bewusst, dass sich das Problem nicht durch Software allein lösen ließ.
          Dies konnte ich aber dem Chef klarmachen, welcher sich daraufhin selbst um eine gangbare Lösung kümmert.

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  3. engywuck schreibt:

    Im Wettbewerb „in einem harmlosen Gespräch möglichst viele sexuelle Anspielungen unterbringen, vorzugsweise ohne dass der Gesprächspartner es bemerkt“ würde ich glatt 5 Punkte vergeben.

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    • breakpoint schreibt:

      5 Punkte auf der nach oben offenen Engywuck-Skala?

      Dabei habe ich mich doch schon sehr zurückgehalten, aber was kann ich dafür, dass es Unmengen solcher Analogien gibt?

      Und – ganz ehrlich, Herr Kollege – wer mit „höherer Ordnung“ anfängt, muss damit rechnen, dass das Gespräch zu Potenzen führt.

      Ach, nur um das klarzustellen, „chaotisches Verhalten“ würde ich nicht zu den sexuellen Anspielungen zählen.

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