Fünfhundertfünfundzwanzig

Ich kam am späten Vormittag ins Büro, weil ich noch vor dem Essen einige Unterlagen durchsehen wollte.
Normalerweise komme ich beim Vorzimmer vorbei, wo ich ein paar Worte mit der Sekretärin oder mit Kathrin wechsle, und mir gleich einen Kaffee mitnehme.
Die Sekretärin war gerade nicht am Platz. Kathrin nutzte die Gelegenheit, um mich „dringend“ um ein Gespräch unter vier Augen zu bitten. Ich sagte ihr, sie solle in einer Viertelstunde in mein Büro kommen.

Kathrin war ungefähr pünktlich, und fiel – entgegen ihrer sonstigen Gewohnheiten – sofort mit der Türe ins Haus: „So kann das nicht weitergehen!“, meinte sie ungewohnt resolut.
„Was kann nicht wie weitergehen?“ Ich hatte tatsächlich nicht verstanden, was sie meinte.
„Ich weiß ja nicht, was er dir wieder angetan hat, aber du wirkst schon die ganze Zeit so richtig fertig. Ich wollte eigentlich nichts mehr sagen, dass du ihn unbedingt heiraten wolltest. Aber so wie du jetzt aussiehst, darfst du dir das einfach nicht von ihm gefallen lassen ..“

Ich schüttelte in Unverständnis den Kopf: „Er hat mir überhaupt nichts angetan. Hör‘ mit diesen Unterstellungen auf. Mir ging’s in letzter Zeit gesundheitlich nicht so gut. Das ist alles.“
„Du musst ihn nicht schützen. Aber ich verstehe schon, dass du nicht drüber reden willst. Wenn du Hilfe brauchst, kannst du jederzeit zu mir kommen. Bitte, warte nicht zu lange.“

Manche Menschen verstehen offenbar nur das, was sie hören wollen, und ziehen ihre eigenen, oft absolut unzutreffenden Schlüsse daraus. Kathrin gehört wohl zu diesen Menschen. Immerhin ist sie gutmütig und nicht gehässig.

Ich atmete also tief durch, und versuchte mich selbst zu überzeugen, dass zusätzliche Worte nichts bewirken würden. Dann fragte ich sie ruhig: „Gibt es sonst noch etwas, was du mit mir besprechen willst?“
„Nein, äh, ich wollte dir nur sagen, dass du dich auf mich verlassen kannst, und du solltest nicht bei ihm bleiben, wenn er dich so schlecht behandelt. Ich helfe dir. Ist mir egal, was er dazu sagt.“
Einerseits rührt mich ja ihre Loyalität mir gegenüber und ihre Courage, sich ggf. gegen ihren Chef zu stellen. Andererseits nervt mich ihr Gehabe unsäglich, und in meiner derzeitigen Verfassung bringe ich nicht die nötige Geduld auf, mich mit ihr auseinanderzusetzen.

Immerhin schaffte ich es, sie nicht anzufahren, sondern sagte sehr kühl: „Ich habe deine Aussage zur Kenntnis genommen. Du glaubst mir ohnehin nicht, dass du mit deinen Annahmen völlig falsch liegst. Also kannst du jetzt auch wieder an die Arbeit gehen.“
Ostentativ wandte ich mich dem Aktenstapel auf meinem Schreibtisch zu, und blickte nicht mehr auf, bis sie das Zimmer verlassen hatte.

Über Anne Nühm (breakpoint)

Die Programmierschlampe.
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23 Antworten zu Fünfhundertfünfundzwanzig

  1. schaum schreibt:

    uiuiui……solche kollegen und mitarbeiter sind schwierig zu handeln, aber ich denke, du hast es gut gemacht. wahrscheinlich habt ich schon zusammen seite an seite geschuftet und ein eher persönliches verhältnis aufgebaut….jedenfalls stehen ihr solche dinge nicht zu und du hast das unmissverständlich kalr gemacht….

    es schäumt diedemarkationslinie

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  2. DerMaskierte schreibt:

    Ich bin schockiert, du hast noch mit Papierakten in einem Maß zu kämpfen, dass sie sich stapeln?

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  3. Delicatus schreibt:

    Hoffentlich geht es Dir bald wieder besser, so dass auch Kathrin es feststellt und dann sollte das Thema von alleine weg gehen

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  4. breakpoint schreibt:

    Ich fühle mich ja schon deutlich besser.
    Erfahrungsgemäß dauert es allerdings deutlich länger, wieder zuzunehmen als abzunehmen. 😦

    Eigentlich hatte ich angenommen, dass Kathrin bei der Hochzeitsfeier ihre Einstellung geändert hätte. War wohl ein Trugschluss.

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  5. sweetsurrender schreibt:

    Aber schon interessant das sie Dich so beschützen will.
    War das immer schon so?
    Du scheinst ja zumindest nach außen hin doch eine sehr gestandene junge Frau zu sein.
    Normalerweise wäre das Verhältnis also genau anders herum. Also Du mehr die beratende und Kümmerin, weil überlegen.

    Wieso kommt sie also darauf die Mutterrolle Dir gegenüber zu übernehmen?

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    • breakpoint schreibt:

      Sie ist ein paar Monate älter als ich.
      Als wir kleine Kinder waren, hat das wohl schon etwas ausgemacht (naja, ich war ein sehr ruhiges, scheues Kind).

      Obwohl mich ihr Verhalten nervt, kann ich es ihr andererseits nicht wirklich übel nehmen, weil ich weiß, dass sie tatsächlich besorgt und gutherzig ist.

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  6. engywuck schreibt:

    nuja, deine Reaktion *könnte* auch von jemanden kommen, der tatsächlich „häusliche Probleme“ hat und den Partner schützen will.

    Insofern wirst Du sie wahrscheinlich nicht sonderlich beruhigt haben…

    (Wobei…. solange Du nicht mehrfach blaue Flecken an seltsamen Stellen hast, die du dann mit „Treppe runtergefallen“ zu erklären versuchst…)

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  7. Leser schreibt:

    Es wäre ja doch interessant, den Ausgang der Geschichte in der möglichen Spielart, dass Du ihr anvertraust, was in den letzten Wochen mit Deinem Körper (und Deinem Geist, das hin- und hergerissen sein etc) vorgegangen ist, zu erfahren. Wird wahrscheinlich nicht passieren, wäre aber interessant. Ich meine, sie wird ja wohl wissen dass so ein Erlebnis dann zu hormonellen Schwankungen führt, und sich daher auch vorstellen können, dass man sich dann nicht unbedingt supergut fühlt etc…

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    • breakpoint schreibt:

      Ich werde ihr ganz bestimmt nichts davon erzählen.
      Das ist meine (und Carsten’s) Privatsache und geht Kathrin überhaupt nichts an.

      Zwar schreibe ich hier alles – im Schutze der Anonymität – sehr offen, aber im Real Life bin ich doch ein recht verschlossener Mensch.

      Das schlimmste dürfte eh überstanden sein.

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  8. Knackfrosch schreibt:

    So oft wie Kathrin deine Beziehung schlecht redet und dir (und sich selbst) zu suggerieren versucht, deine Beziehung sein nicht in Ordnung, entsteht bei mir der Eindruck, sie ist in Wahrheit neidisch, dass du einen reicheren Mann hast.

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    • breakpoint schreibt:

      Das glaube ich nicht. Ich kenne sie ja schon sehr lange, und Neid und Missgunst zählt eigentlich nicht zu ihren Eigenschaften.

      Sie hat Carsten halt noch nie gemocht. Kein Wunder, wie er sie manchmal rumscheucht. Ich möchte ihn auch nicht als Chef haben.

      Offenbar überträgt sie das jedoch auf unsere Beziehung.

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      • Knackfrosch schreibt:

        Du meinst, da sie (Kathrin) Carsten nicht leiden kann, ist sie der Meinung, alle anderen Menschen müssten ihn auch nicht leiden können? Dass wäre natürlich auch eine Erklärung für ihr Verhalten, obwohl ich das (ihre Denkweise) etwas seltsam finde.

        Überhaupt kommt – meiner Meinung nach – Kathrin immer sehr negativ rüber, aber vielleicht liegt dass auch daran, dass es interessanter ist über negative Dinge zu schreiben.
        Würdest du dich heute noch mit ihr befreunden, wenn du sie neu kennen lerntest.

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        • breakpoint schreibt:

          Kathrin hat – auch wenn das hier leider und von mir unbeabsichtigt ziemlich untergeht – durchaus ihre guten Eigenschaften.
          Ob ich mich heute nochmals mit ihr anfreunden würde, weiß ich nicht. Wir sind halt doch sehr unterschiedlich. Als Kinder und Jugendliche war das früher noch ganz anders.

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  9. Bellona schreibt:

    bisschen gruselig… aber gut, wenn sie halt so ist und ihn so einschätzt, wirst du sie nicht überzeugen können. auch wenn es mich an deiner stelle natürlich verletzten würde, wenn jemand so von mir denkt (dass ich mich von meinem mann scheiße behandeln lasse).

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    • breakpoint schreibt:

      Sie hat sich absolut in diesen Gedanken hineinverrannt, obwohl ich ihr schon öfters erklärt habe, dass sie sich das nur einbildet.
      Normalerweise sieht sie uns ja nur im Büro zusammen, wo wir geschäftlich-professionell miteinander umgehen.

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